Der Thron von Melengar: Riyria 1 (German Edition)
Wirtshaus- und Kirchentüren im Reich Plakate anschlagen, die eine Belohnung von einhundert Goldtalern für die Ergreifung des Zwergs versprachen. Patrouillen ritten sämtliche Landstraßen entlang, durchkämmten Scheunen, Vorratsspeicher und Mühlen und suchten selbst unter Brücken, doch der Zwerg blieb verschwunden.
Nach der Trauerwoche begannen die Reparaturarbeiten am Schloss. Arbeitstrupps räumten die Trümmer weg, und Baumeister veranschlagten die Zeit für die Neuerrichtung des Turms auf mindestens ein Jahr. Obwohl das Falkenbanner über dem Schloss wehte, sah die Stadt von Alric nichts. Er kam nicht aus den Hallen der Macht heraus, weil eine Flut von Pflichten über ihn hereinbrach. Graf Pickering, der ihmals Ratgeber diente, blieb mit seinen Söhnen im Schloss und half dem jungen Prinzen, in die Rolle seines Vaters hineinzuwachsen.
Auf den Tag genau einen Monat nach König Amraths Beisetzung fand die Krönung des Prinzen statt. Inzwischen hatte es wieder geschneit, und die Stadt war weiß. Alles, was Beine hatte, kam zur Krönung, aber nur ein Bruchteil der Leute passte in die riesige Mares-Kathedrale, in der die Zeremonie stattfand. Die meisten konnten nur einen Blick auf den Prinzen erhaschen, als er in einer offenen Kutsche ins Schloss zurückfuhr oder bei seinem anschließenden von Trompetenschall begleiteten Auftritt auf dem Balkon.
Den ganzen Tag wurde gefeiert; Musikanten und Gaukler waren dafür gedungen worden, die Stadtbewohner zu unterhalten. Schloss Essendon gab sogar Freibier aus und stellte reihenweise Tische mit allerlei Speisen bereit. Am Abend, der um diese Jahreszeit früh kam, drängte man sich in den Schänken und den von auswärtigen Besuchern belegten Gasthäusern. Die Einheimischen erzählten wieder die dramatischen Einzelheiten der Schlacht von Medford und die inzwischen berühmte Legende von Alric und den Dieben . Diese Geschichten waren immer noch sehr populär, und es schien, als würden sie gar nie aus der Mode kommen. Doch es war ein langer Tag gewesen, und schließlich erloschen sogar in den Gaststuben die Lichter.
Eines der wenigen Häuser, in denen noch eine Kerze brannte, stand im Handwerkerviertel. Es war ursprünglich eine Hutmacherei gewesen, doch der Vorbesitzer Lester Furl war in der Schlacht vor einem Monat gefallen. Es hieß, sein Federhut habe die Aufmerksamkeit einer Axt auf sich gezogen. Zwar hing noch immer das Holzschild in Form eines solch prächtigen Hutes über der Tür, aber es wurden keine Hüte mehr feilgeboten. Noch spät in der Nacht brannte hier stetsLicht, doch man sah nie jemanden den Laden betreten oder verlassen. Wer so neugierig war, anzuklopfen, dem wurde die Tür von einem kleinen Mann in einem schlichten Gewand geöffnet. Hinter dem kleinen Mann sah der Besucher einen Raum, voll mit sauber geschabten Tierhäuten. Die meisten lagen zum Einweichen in Zubern oder waren über Rahmen gespannt. An den Wänden lagerten Bimssteinstücke, Nadeln und Garnrollen sowie säuberlich gefaltete Vellumbögen. Ferner enthielt der Raum drei Schreibtische mit dachförmigen Aufsätzen, über denen sorgsam beschriebene Pergamentbahnen hingen. Auf Borden und in offenen Schubladen standen Tintenfässer. Der kleine Mann war immer höf lich, und wenn er gefragt wurde, was er in seinem Laden verkaufe, antwortete er: »Nichts.« Er schreibe einfach nur Bücher. Da die wenigsten Leute lesen konnten, endeten die Erkundungen zumeist hier.
Tatsächlich aber gab es in dem Laden nur sehr wenige Bücher.
Myron Lanaklin saß allein im Ladenraum. Er hatte eine halbe Seite von Grigoles’ Über das Gemeine Recht des Imperiums niedergeschrieben und dann aufgehört. In dem Raum war es kalt und still. Er stand auf, ging ans Ladenfenster und blickte hinaus auf die dunkle, verschneite Straße. In dieser Stadt, wo es mehr Menschen gab, als er je gesehen hatte, fühlte er sich ganz allein. Ein Monat war schon vergangen, und er hatte erst die Hälfte seines ersten Buchs geschafft. Die meiste Zeit saß er einfach nur da. In der Stille bildete er sich ein, die Stimmen der anderen Brüder die Vesper sprechen zu hören.
Den Schlaf mied er wegen der Albträume. Die hatten in seiner dritten Nacht hier im Laden begonnen und waren schrecklich. Lodernde Flammen und flehende Laute, die ausseinem eigenen Mund kamen, während die Stimmen seiner Familie in dem Inferno erstarben. Jede Nacht erstarben sie, und jeden Tag erwachte er auf dem kalten Boden des kleinen Raums, in einer Welt, isolierter
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