Der Tiger im Brunnen
fünfschüssigen Revolver, der über reichlich Feuerkraft verfügte, aber dennoch klein genug war, um in einer Tasche Platz zu haben.
»Der hat einen starken Rückschlag, Miss«, erläuterte der Verkäufer. »Nicht leicht zu schießen, wenn man nicht daran gewöhnt ist. Man muss ein Stück unterhalb des Ziels anvisieren, sonst geht der Schuss daneben.«
»Der Colt würde mir schon gefallen«, sagte Sally, »aber er ist zu groß. Der hier ist genau richtig. Ich werde mich schon daran gewöhnen. Ich habe einige Übung im Schießen. Und fünfzig Schuss Munition bitte.«
Das Ganze kostete sie knapp vier Pfund. Sie ließ sich die Waffe samt Munition verpacken und nahm das Bündel dann an sich – zur Verwunderung des Verkäufers, denn gewöhnlich ließen sich Herrschaften, die solche Einkäufe tätigten, die Ware nach Hause liefern, statt mit einem Paket unterm Arm durch die Straßen zu gehen. Sally fühlte sich über solche Vornehmtuerei jedoch erhaben.
Sie hatte wirklich schon große Erfahrung im Umgang mit Schusswaffen. Ihr Vater hatte ihr das Schießen beigebracht und ihr zu ihrem vierzehnten Geburtstag eine leichte belgische Pistole geschenkt. Was sie dem Verkäufer nicht gesagt hatte, war, dass sie schon zweimal geschossen hatte, um zu töten. Das erste Mal war sie sechzehn; damals bedrohte sie der Mann, der ihren Vater umgebracht hatte. Er hieß Ah Ling, war halb Chinese und halb Holländer und stand an der Spitze eines chinesischen Geheimbundes. Er hatte ohne Mr Lockharts Wissen Opium auf dessen Schiff geschmuggelt. Sally hatte in einer Mietdroschke in der Nähe der East Indian Docks auf ihn geschossen, um sich aus seinen Händen zu befreien. Ob sie ihn getötet hatte, wusste sie nicht, denn damals war sie aus Entsetzen über ihre Tat geflohen. Eine Leiche wurde nie gefunden. Sie vermutete daher, dass er mit dem Leben davongekommen und zurück nach Asien gegangen war.
Das zweite Mal hatte sie geschossen, um Frederick Garlands Tod zu rächen. Sie hatte einen Schuss in den Mechanismus des Dampfmaschinengewehrs abgegeben, einer schrecklichen neuartigen Waffe aus der Fabrik des Waffenherstellers Axel Bellmann. Mit dem Schuss wollte sie ihn töten und zugleich selbst den Tod finden. Nun, sie hatte überlebt und war froh darüber. Axel Bellmann dagegen war tot. Nach diesem Schock hatte sie sich geschworen, nie wieder Gewalt anzuwenden, sich nie mehr durch die Gewalttätigkeit anderer zur Rache verleiten zu lassen.
An diesem Vorsatz konnte sie nicht länger festhalten. Sie würde reisen und nachforschen müssen, bis sie für ihre Verteidigung vor Gericht über hieb- und stichfeste Beweise verfügte. Wenn es dabei zum Kampf kommen sollte, wollte sie nicht unvorbereitet sein.
Aber noch einmal: Warum? Was will er eigentlich von mir? Was habe ich ihm getan? Und wer ist er überhaupt?
Der Journalist
Weiter flussabwärts von Twickenham lagen die Londoner Docks, wo etwa zur gleichen Stunde, als Sally sich zu Bett legte, der Dampfer Haarlem mit Passagieren aus Rotterdam anlegte. Wie üblich war in Gravesend ein Zollbeamter an Bord gegangen, doch die Passagiere dieses Schiffes hatten kaum etwas zu verzollen. Die Überfahrt war anstrengend gewesen. Alle waren arm, viele hungrig und einige krank.
Das Fallreep wurde heruntergelassen, und diejenigen, die die Überfahrt an Deck verbracht hatten, suchten ihre Habseligkeiten zusammen und gingen unsicheren Schrittes an Land. Frauen mit Tüchern auf dem Kopf, bärtige Männer mit Spitzhüten oder abgewetzten Pelzmützen, in geflickten Hosen und abgetragenen Stiefeln. Ihre Habe war oft nicht mehr als ein verschnürter Pappkarton, eine zusammengerollte Matte, ein unförmiges Bündel, ein Korb voller Wäsche, eine Pfanne oder ein Kessel … Während sie nacheinander das Schiff verließen und zu einem vom Gaslicht hell erleuchteten Tor strömten, wandte sich ein Schauermann an seinen Kumpel und fragte: »Was hört man da für ein Kauderwelsch, Bert?«
»Was die reden? Jiddisch, Sam.«
»Jiddisch? Wo spricht man das?«
»Zum Beispiel in der Cable Street. Das sind Juden. Die kommen aus Russland oder von anderswo aus dem Osten. Hast du noch nie von ihnen gehört?«
Der erste Mann schaute wieder zu dem Strom von Flüchtlingen hinüber. Sie drängten immer noch aus dem Schiff – wie viele hatte man dort wohl hineingepfercht? Hundert oder mehr? – und ein Ende war nicht abzusehen. Ein Kind von vielleicht fünf Jahren mühte sich mit einem schweren Korb ab, mit der anderen
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