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Der Tiger im Brunnen

Der Tiger im Brunnen

Titel: Der Tiger im Brunnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philip Pullman
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Hochzeitstorte. Kommissionäre schließen für andere Verträge ab, kaufen oder verkaufen, wechseln fremde Währungen, besorgen Pässe und Eisenbahn-Billetts, reservieren Abteile in der Transsibirischen Eisenbahn und Logen in der Oper von Wladiwostok, arrangieren eine Audienz beim Dalai Lama, halten einen Platz in der Pokerrunde auf einem Mississippi-Dampfer frei, kurz, sie sorgen für alles, was der Kunde wünscht. Ein angenehmes Leben, abwechslungsreich. Der Gentleman hat übrigens ein Büro in der Blackmoor Street, nicht weit von der Drury Lane.«
    »Wirklich?«, sagte Sally überrascht. »Vielleicht sollte ich dort einmal hingehen. Darauf ist er sicherlich nicht gefasst.«
    »Mr Adcock hätte dann die Verteidigung in einem Mordfall vorzubereiten«, konterte der alte Angestellte. »Gehen Sie nicht hin und lassen Sie sich auf nichts ein. Denken Sie stets: Sie sind nicht mit ihm verheiratet, Sie haben nie von ihm gehört, Sie wissen überhaupt nicht, wovon er redet. Lassen Sie sich nicht provozieren. Da wird ihm bald bange werden.«
    »Meinen Sie?«
    »Auf jeden Fall. Er hat frech gelogen. Ob das Gericht ihm glaubt, hängt davon ab, wie wir auf die Anschuldigungen reagieren. Wen hat Mr Adcock engagiert?«
    »Wofür? Um vor Gericht zu plädieren? Einen Mr Coleman. Er soll brillant sein.«
    »Nun, das sind sie alle, die Seidenroben. Müssen sie auch, sonst würde das ganze Rechtsgebäude mit lautem Getöse zusammenbrechen, nicht wahr?«
    Eine Seidenrobe war ein Kronanwalt, ein angesehener Jurist, der beim Obersten Gerichtshof als plädierender Anwalt zugelassen war. Mr Adcock musste Mr Coleman über alle Einzelheiten genauestens in Kenntnis setzen, damit dieser dann Sallys Fall übernehmen konnte. Sie vertraute darauf, dass er es gut machen würde. Etwas anderes blieb ihr auch nicht übrig.
     
    Da Jim Taylor irgendwo in Südamerika steckte (sein letzter Brief war in Manaus aufgegeben worden; darin hatte Jim berichtet, man wolle mit einem einheimischen Führer in den Dschungel aufbrechen), sah Sally keine Möglichkeit, Mr Parrishs Verhältnisse auszukundschaften, wollte sie nicht einen Privatdetektiv beauftragen. Parrish musste ihr Leben erstaunlich gut kennen. Ihr schauderte bei dem Gedanken, dass irgendjemand offenbar schon seit langem und überaus gründlich in ihrer Vergangenheit gewühlt hatte. Der Kläger wusste genau Bescheid. Er hatte einen Zeitpunkt gewählt, zu dem sie allein und ohne ihre Freunde war, so dass niemand zu ihrer Entlastung vor Gericht aussagen konnte. Er hatte das Datum für die angebliche Eheschließung in eine Zeit gelegt, als sie in ein gefährliches Abenteuer verwickelt war, bei dem es um einen Waffenfabrikanten ging. Damals hatte sie absichtlich wenig Spuren hinterlassen – nichts, woraus hervorging, dass sie an dem betreffenden Tag nicht in jener Kirche gewesen war. Er kannte ihre Geschäftsadresse und er wusste, welche Summe sie in Wertpapieren angelegt hatte.
    Mit der wichtigsten Frage hatte sie sich noch gar nicht auseinandergesetzt. Doch nachdem sie die Anwaltskanzlei verlassen hatte und nun den Strand in Richtung Drury Lane entlangging, stellte sich diese Frage ganz von selbst und immer drängender: Warum? Warum tut er das? Warum?
    Das Messingschild neben der Tür in der Blackmoor Street verriet ihr nichts, außer dass sich Arthur Parrish, Kommissionär, das Gebäude mit der Firma G. Simonides, Anglo-Levantinische Handelsgesellschaft, und mit T. und S. Williams, Gewürzimport, teilte. Besser, sie blieb hier nicht länger stehen. Parrish wusste sicherlich, wie sie aussah, und –
    Aber was war denn schon dabei, wenn er sie erkannte? Sie dachte schon wie eine Kriminelle. Sie brauchte sich doch nicht hier herumzudrücken und sich schuldig zu fühlen. Fast schien es, als habe sie sich schon von diesem Wahnsinn anstecken lassen.
    Sally ging wieder zurück in Richtung Strand. Im Haus Nr. 223 hatte ein Büchsenmacher seinen Laden.
    »Ich möchte eine Pistole kaufen«, sagte sie zu dem Verkäufer, einem finsteren Schnurrbartgesicht.
    »Eine Übungspistole, Miss?«
    »Einen Revolver.«
    Übungspistolen waren leichte, einschüssige Waffen, die oft in Schießhallen benutzt wurden. Ihre Reichweite betrug etwa zehn Meter. Sally besaß schon zwei davon, aber jetzt suchte sie nach etwas Schwererem. Zuerst schaute sie sich einen Webley Pryse an, dann einen Tranter, dann erwog sie eine Weile, einen Colt zu nehmen. Am Ende entschied sie sich für einen British Bulldog, einen vernickelten

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