Der Tiger im Brunnen
England. Auf jeden Fall ging es ihr besser als vielen Frauen, die in unglücklichen Ehen gefangen waren. Sie verfügte über eigenes Geld und Unabhängigkeit, hatte Freunde, ein Zuhause und eine interessante Arbeit – und sie hatte Harriet.
Versonnen pflückte Sally ein paar reife Feigen und ging damit zum Obstgarten hinüber, wo Sarah-Jane auf einem von Webster gezimmerten Baumsitz saß und nähte. Neben ihr war Harriet gerade dabei, ihrem Teddybären Bruin zu helfen, an einem Seil hochzuklettern, um an Honig zu kommen, der nur in ihrer Fantasie existierte. Sally setzte sich zu Sarah-Jane.
»Magst du Feigen?«, fragte sie und gab ihr eine zum Kosten.
»Ja, sehr sogar«, sagte das Kindermädchen. »Danke schön.«
In diesem Moment sah Sally, wie jemand auf der Straße vor dem Tor stand und auf ein Papier schaute. Dann öffnete er das Tor und verschwand auf dem Weg zur Haustür aus Sallys Blickfeld.
»Hattie, Liebling, komm, probier mal eine Feige«, sagte sie.
Kaum hatte Harriet gesehen, dass es etwas zu essen gab, ließ sie Bruin fallen und kam herbeigelaufen. Argwöhnisch betrachtete sie das weiche rote Fruchtfleisch mit den kleinen Samenkörnern. Sally biss noch einmal ab.
»So musst du es machen«, sagte sie. »Wenn du es nicht probierst, weißt du auch nicht, wie es schmeckt. Bruin kriegt auch etwas davon.«
Während beide den Teddybären futterten, begann Harriet an ihrer Feige zu knabbern. Am Ende hatte sie fast alle Früchte gegessen.
»Sie wächst so rasch«, bemerkte Sarah-Jane. »Sehen Sie nur, bei den Unterröcken kann man keinen Saum mehr herauslassen. Jetzt geht es noch halbwegs, aber bald braucht sie neue.«
»Wir sollten sie messen«, schlug Sally vor. »Was meinst du, Harriet, sollen wir einen Strich an die Mauer machen und schauen, wie viel du gewachsen bist?«
»Feige«, sagte Harriet und deutete auf die Frucht in Sarah-Janes Hand. »Noch eine.«
Sally lachte. »Nein, die gehört Sarah-Jane. Aber da kommt Ellie mit einem Besucher.«
Harriet, die kleine Hausherrin, drehte sich um und schaute, wer ihr wohl diesmal die Ehre eines Besuches geben wollte. Ellie kam über den Rasenplatz, gefolgt von dem Mann, der zuvor am Tor gestanden hatte. Er war, soweit Sally erkennen konnte, mittleren Alters und schlank, trug einen abgewetzten braunen Anzug und Melone. In der Hand hielt er ein großes weißes Kuvert.
»Miss Lockhart«, begann Ellie unsicher, »der Herr hier sagt, er muss sie persönlich sprechen.«
Der Mann lüftete den Hut. »Miss Lockhart?«
»Ja bitte?«, entgegnete Sally. »Was kann ich für Sie tun?«
»Ich habe den Auftrag, Ihnen das hier persönlich zu übergeben.«
Er reichte ihr ein Kuvert mit einem roten Gerichtssiegel. Sally nahm es ihm wie selbstverständlich ab. Es ist schwer, etwas abzulehnen, das einem in die Hand gedrückt wird. Mit Höflichkeit kann man jemanden leicht überrumpeln.
Der Mann lüftete wieder den Hut und wandte sich zum Gehen. Sally stand auf.
»Augenblick bitte«, sagte sie. »Wer sind Sie eigentlich? Und was ist das?«
»Die Erklärung finden Sie inwendig, Miss«, antwortete er knapp. »Was meine Person betrifft, ich bin Gerichtsdiener. Ich habe meine Pflicht getan und muss jetzt gehen, sonst verpasse ich meinen Zug. Schönes Wetter für diese Jahreszeit …«
Mit einem nervösen Lächeln wandte er sich endgültig ab und marschierte über den Rasen davon. Ellie blickte Sally verwirrt an und eilte ihm dann nach.
Harriet, enttäuscht über den kurzen Besuch, kehrte zu ihrem Spiel mit Bruin und dem Honig zurück. Sally setzte sich. Sie ahnte, dass es falsch gewesen sein könnte, das Kuvert widerspruchslos entgegenzunehmen. Durfte man eine Vorladung oder dergleichen nicht ablehnen? War derjenige, der ein solches Schriftstück annahm, damit nicht schon die Verpflichtung eingegangen, sich zu rechtfertigen …? Ach, es würde schon nichts Wichtiges sein. Vermutlich hatte sich jemand geirrt.
Sie riss den Umschlag auf und zog eine große, sorgfältig gefaltete Urkunde heraus. Oben prangte das Königliche Wappen, dann folgte in gestochener Handschrift ein juristischer Schriftsatz. Sally begann zu lesen:
Oberster Gerichtshof, Abteilung für Nachlass- und Scheidungsangelegenheiten
Am 3. Januar 1879 hat der Kläger Arthur James Parrish mit Veronica Beatrice Lockhart (im Folgenden die Beklagte genannt) in der St.-Thomas-Kirche zu Southam, Grafschaft Hampshire, die Ehe geschlossen.
Sally schluckte. Das war doch lächerlich. Veronica Beatrice
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