Der Tiger im Brunnen
Der Gerichtsdiener
An einem sonnigen Herbstmorgen des Jahres 1881 stand Sally Lockhart im Garten ihres Hauses, schaute ihrer kleinen Tochter beim Spielen zu und sagte sich, dass doch alles in bester Ordnung sei.
Worin sie sich täuschte. Doch das sollte sie erst zwanzig Minuten später erfahren. Der Mann, der ihr diese Illusion rauben sollte, war bereits auf dem Weg zu ihr. Noch aber war sie glücklich und das war herrlich; für gewöhnlich hatte sie so viel um die Ohren, dass sie sich dessen gar nicht bewusst wurde.
Zuerst einmal war sie glücklich über ihr Zuhause. Es war ein großes Anwesen in Twickenham, das den Namen Orchard House trug – ein geräumiges, helles Haus vom Anfang des 19. Jahrhunderts, mit schmiedeeisernen Baikonen und einer verglasten Veranda zur Gartenseite hin. Der Garten selbst bestand aus einem großen, sonnigen Rasenplatz, ein paar Blumenbeeten, einem Feigenbaum und wildem Wein, der an der Mauer entlangwuchs. Weiter hinten schloss sich ein Obstgarten aus alten Apfel- und Pflaumenbäumen an. Das Ganze war von einer niedrigen Ziegelmauer eingefriedet.
Gegenüber dem Feigenbaum hatte man einen merkwürdigen Bau errichtet: mit einem Glasdach wie bei der Veranda, aber an der Längsseite offen. Er enthielt Schienen, die auf sechzig Zentimeter hohen Böcken verliefen. Die Anlage sah aus wie eine große Modelleisenbahn und war für Experimente auf dem Gebiet der Momentfotografie bestimmt. Hier standen demnächst weitere Versuche an, doch dazu mussten erst einmal ihre Freunde wieder heimkehren.
Ihre Freunde, ja, auch über sie war Sally glücklich: Webster Garland, fünfundsechzig, künstlerischer Fotograf, ihr Geschäftspartner bei Garland & Lockhart, und Jim Taylor, um die zwanzig, zwei oder drei Jahre jünger als sie – das war ihre ganze Familie. Sie teilten mit Sally das Haus und bisweilen auch gefahrvolle Abenteuer. Sie lebten recht unkonventionell und fühlten sich an keine Anstandsregel gebunden, aber man konnte sich felsenfest auf sie verlassen. Zurzeit waren die beiden Männer in Südamerika unterwegs. Alle paar Jahre gab Webster Garland dem Drang nach, zum Fotografieren in die Wildnis aufzubrechen. Und da ihn Jim diesmal begleitete, war Sally auf sich allein gestellt.
Nicht ganz allein, sie hatte immerhin noch ihre Hausangestellten – und auch darüber war sie glücklich: Ellie, das Dienstmädchen, Mrs Perkins, die als Köchin und Wirtschafterin im Haus arbeitete, und Roberts, der sich um den Garten und die Pferde kümmerte. Ferner gab es das Fotoatelier in der Church Street, wo sie einmal pro Woche die Rechnungen prüfte. Und außerdem hatte sie ihr eigenes Geschäft, ein Büro für Finanzberatung, in der Londoner Innenstadt. Damit strafte sie diejenigen Lügen, die behaupteten, Frauen sollten keinen Geldberuf ausüben, sofern sie weiblich bleiben wollten, und wenn sie es dennoch täten, müsse mit ihnen etwas nicht stimmen. Die Geschäfte gingen so gut, dass Sally sich erst vor kurzem mit einer Partnerin zusammengetan hatte: einer jungen Frau mit Sinn für Ironie. Margaret Haddow hatte wie sie selbst an der Universität studiert und trat ebenso für die Gleichberechtigung der Frauen ein.
Schließlich gab es auch noch ein Kindermädchen: Sarah-Jane Russell, achtzehn Jahre alt, eine tüchtige, freundliche junge Frau. Sie war in Jim verliebt, ohne dass der junge Mann oder sonst eine Menschenseele etwas davon geahnt hätte.
Doch was Sallys eigentliches Glück ausmachte, war ihr Kind: Harriet, ein selbstbewusstes und eigenwilliges Mädchen von einem Jahr und neun Monaten. Sie genoss jedermanns Zuneigung und lachte alle glücklich an – sie war ein richtiger kleiner Sonnenschein. Der Vater des Kindes, Frederick Garland, Websters Neffe, hatte seine Tochter nie gesehen, denn er war in der Nacht, in der sie gezeugt wurde, bei einem Brand umgekommen. Wäre er am Leben geblieben, hieße Sally jetzt Mrs Garland und Harriet wäre ihr eheliches Kind. Sallys Liebe zu Frederick war schwer erkämpft und vorbehaltlos gegeben worden. An Harriet hing sie mit jeder Faser ihres Herzens. Nie hatte sie jemanden mehr geliebt. Nach Fredericks Tod hatte sie zunächst das Gefühl gehabt, nicht mehr weitermachen zu können, doch als sie das neue Leben in sich wachsen spürte, erkannte sie, dass sie weiterleben musste. Und abgesehen von der schrecklichen Lücke, die Fredericks Tod hinterlassen hatte, war alles gut, so gut, wie es nur sein konnte für eine ledige Mutter im viktorianischen
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