Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
genügt. Wenn du möchtest, kannst du dein Testament mir übergeben, wenn es fertig ist.«
»Das ist ein wunderbares Angebot, Karl. Dann wüsste ich, wer auf die Durchführung achtet. Lisa traue ich es nicht zu.«
Ja, Lisa traute er es nicht zu, seine Angelegenheiten zu regeln. Er traute ihr wohl zu, seinen Nachlass zu ordnen und zu verschleudern. Er traute ihr aber nicht zu, die Dinge nach seinem Tod so zu regeln, wie er es sich gewünscht hätte. Marvin senkte seinen Blick auf die Bettdecke, um Karl nicht in die Augen sehen zu müssen. Der Gedanke an Lisa machte ihn traurig.
»Lisa hat es jetzt auch nicht leicht, Marvin.«
Überrascht blickte er Karl wieder an. »Kannst du Gedanken lesen?«
Karl lächelte. »Nein – das wäre was.«
»Hätte ja sein können – so mit Gottes Hilfe.«
Marvin lächelte traurig mit, doch auch Karls Lächeln bekam einen sehr schwermütigen Zug um die Mundwinkel und beschämt fiel Marvin jetzt der ernste Gesichtsausdruck seines Freundes auf, den er ignoriert hatte, als Karl hereingekommen war.
»Es tut mir leid.«
Karl blickte erstaunt. »Was tut dir leid?«
»Dass ich dich mit dem belästige, was eigentlich nur mir auferlegt ist.«
Karl winkte ab. »Was redest du da? Du belästigst mich nicht.«
»Doch!«, beharrte Marvin. »Ich falle während deines Besuches mit meinen Sorgen über dich her und stopfe sie dir in dein Herz, weil ich weiß, dass es so groß ist.« Marvin hätte weinen können.
»Du missbrauchst mich nicht für deine Seele. Ich bin Pfarrer, schon vergessen? Zuhören und Trösten gehört zu meinem Beruf. Wie kommst du darauf, dass du mich belästigen könntest?«
Karl versuchte, wieder die Zuversicht und Sicherheit auszustrahlen, die Marvin von ihm kannte. Er klopfte Marvin auf die Schulter.
»Wenn ich irgendetwas für dich tun kann, sage es.«
Marvin nickte. »Beweise einem Ungläubigen aber Gewillten, dass es dort oben jemanden gibt und dass dies alles hier einen Sinn hat.«
»Du willst etwas von Gott hören?« Karl stutzte und wurde auffallend leise. »Das kommt überraschend. Du musst wissen, dass ich gerade in letzter Zeit …« Hier stoppte er plötzlich. Er verschluckte die Worte, die ihm auf der Zunge lagen, als schämte er sich, sie auszusprechen.
»Was hast du in letzter Zeit? Was willst du mir sagen, Karl?«
Marvin bemühte sich, ihn zu einer Aussage zu ermutigen. Er ahnte etwas. Karl hatte anscheinend eine Geschichte und er war neugierig auf diese Geschichte. Gleichzeitig überkam ihn die Angst, vielleicht das Ende nie zu erfahren. Wenn er etwas hasste, dann waren es Geschichten ohne ein Ende.
»In letzter Zeit … ich weiß nicht, wie ich es sagen soll … ich … zweifele an Gott! Ich bin mir plötzlich nicht mehr sicher und stelle seine Existenz infrage ... tief innen in mir.«
Während er das sagte, sah Karl in eine andere Ecke des Zimmers. Er schämte sich wirklich. Nicht ohne Grund, dachte Marvin, schließlich war er Pfarrer und Zweifel an Gott erwartete man von diesem am wenigsten. Was Marvin dazu dachte, war wenig hilfreich für Karl, aber entscheidend für Marvin selbst. Wenn Karl, als Pfarrer, nicht ernsthaft an Gott glauben konnte oder zumindest auch nur den geringsten Zweifel am Glauben hatte – was war dann der Segen wert, den er sich von ihm holen wollte?
»Warum zweifelst du an Gott?«
Marvin fragte es ziemlich ernüchtert.
Deutlicher als vorhin bemerkte er Karls müdes und blasses Gesicht, so als hätte er seit langer Zeit nicht richtig geschlafen. Als Karl zu sprechen begann, flüsterte er fast. Erst allmählich öffnete sich seine Stimme weiter.
»Es ist nicht das erste Mal, dass ich an Gott zweifele. Es geschah mehr oder weniger schleichend. Immer mal wieder dockte sich ein Stückchen Zweifel an meinen Glauben an und knabberte daran …«, seine Eigenart, in Metaphern zu sprechen, konnte er auch jetzt nicht lassen, »… Bis mir schließlich bewusst wurde, dass ich ein Problem habe, verging einige Zeit. Irgendwann merkte ich, dass ich immer öfter nur noch eine Rolle spiele. Du weißt ja, dass man als Pfarrer den ganzen Tag sehr beschäftigt ist. Man ist eine Art Manager der Gemeinde. Es gibt so viel Organisatorisches und Soziales zu tun, dass man sich seiner spirituellen Aufgabe in manchen Zeiten schon mal wieder bewusst werden muss. Es ist der Alltag, der einen fesselt. Selbst die tägliche Zwiesprache mit Gott beim Gebet wurde mir zum Alltag, zu einer Gewohnheit, die ich nur mit halbem Herzen ausführe, in Gedanken schon wieder bei der
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