Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
nachdem Marvin kurz eingenickt war. Erschrocken aufgewacht und noch nicht klar darüber, wo er sich befand, riss er mit einer unvorsichtigen Bewegung die Nadel samt Schlauch aus der Armbeuge. Wieder einmal ergossen sich Blut und Infusionsflüssigkeit über seine Bettdecke und Marvin konnte kaum ein Blutbad verhindern. Er klingelte nach den Schwestern. Natürlich dauerte es ewig, bis sich jemand erbarmte und natürlich war es Sabine, die den Kopf zwischen Tür und Angel steckte.
»Ich weiß auch nicht, wie das passieren konnte … auf einmal … Schwupps, war es abgerissen …«, stammelte Marvin zu seiner Verteidigung.
Er musste so verzweifelt ausgesehen haben, dass selbst Schwester Sabine nicht mehr ernst bleiben konnte. Sie fasste sich an die Stirn und lachte, noch an den Türrahmen gelehnt. Es war das erste Mal, dass er sie lachen sah.
»Marvin Abel!«, sagte sie. »Ich hätte es ahnen müssen.«
Sie eilte heran, um die Blutung zu stoppen. Bevor sie jedoch das Bettzeug wechselte, setzte sie sich auf den Stuhl neben Marvins Bett. Noch sichtlich amüsiert schüttelte sie den Kopf. Marvin wusste nicht, ob er sich über ihre Belustigung erfreut oder beleidigt fühlte. Eine Mischung von beidem, so schien es ihm. Bald blieb nur noch das leichte Lächeln der ungeschminkten, aber rosafarbenen Lippen auf ihrem Gesicht.
»Wie geht es Ihnen eigentlich?«, fragte sie. »Sie hatten uns so plötzlich verlassen.«
»Das ist das erste Mal, dass Sie mich fragen, wie es mir geht.«
»Ich weiß!«, gab sie zu. »Ich weiß ja. Wir stehen hier sehr unter Druck, wissen Sie?« Sie zögerte. »Und der junge Mann, auf den Sie mich ansprachen – André Hausner – er war ein Freund von mir. Verstehen Sie? Er starb tatsächlich genau an der Stelle, an der Sie gelegen haben. Hier in diesem Zimmer.« Sie wies auf sein Bett.
Marvin versuchte angestrengt, sich an ihre damalige Reaktion auf seine Fragen zu dem jungen Mann zu erinnern. ›Alles Hirngespinste!‹ Das waren ihre Worte gewesen – gelogene Worte.
»Und? Gab es eine Fehldiagnose? Oder waren das alles Hirngespinste?«
Sabine stand auf und begann routiniert, das Bettzeug abzuziehen.
»Die Fehldiagnose hatte ihm dieser Mitpatient, Frederik Schumann, eingeredet. Und André …«, sie seufzte. »… der hatte ihm das gerne geglaubt, genau wie Sie. Er erzählte ab da an überall, er wäre gar nicht krank, verweigerte die Medikamente und wollte gegen jeden Rat nach Hause.«
»Dann starb er wirklich an den Folgen eines epileptischen Anfalls?«
»Ja – man fand ihn an seinem Erbrochenen erstickt.«
Marvin hielt inne. Dieses grausige Wort … ›Ersticken‹ … sein Albtraum!
»Man hat ihn nicht ermordet, Herr Abel. Das ist absoluter Blödsinn! Wirklich! Bestünde da nur der geringste Verdacht, wäre ich die Erste, die nachhaken würde. Nein – mein Freund ist an seinem eigenen Erbrochenen erstickt. Hätte er seine Medikamente genommen …« Sie stoppte plötzlich. Ihre Stimme zitterte. »… aber es ging vielleicht auch schneller so.«
Kaum noch konnte Marvin sie verstehen. Sabine, die so hartgesottene, streitbare Krankenschwester, versuchte ihr Gesicht zu verstecken, damit er ihre verheulten Augen nicht sehen konnte.
»Wie gut waren sie befreundet?«, fragte er trotzdem.
Sie riss sich zusammen und bezog das Bettzeug schweigend weiter, langsamer als sonst, wie zum Alibi, noch hier zu sein, den Kopf dabei nach unten gesenkt und vordergründig nur auf ihre Arbeit konzentriert.
Doch Marvin wollte es ihr entlocken. »Wie gut?«
Ihre Arbeit war getan, das Bett frisch bezogen, der Rest der Infusion entsorgt. Erst jetzt schaute sie ihn an und versuchte dabei, gefasst zu wirken, trotz der roten Wangen. Wimperntusche, die verwischen könnte, wie bei Lisa, trug sie nicht.
»Er war mein Ex-Freund«, antwortete sie leise. »André war mein Ex-Freund. Er war mal ganz tief unten gewesen, völlig versackt – drogenabhängig. Ich verließ ihn damals, gerade dann, und er landete auf der Straße. Er war er ein Kind aus reichem Hause. Doch seine Eltern sperrten ihm alles. Es war eine schlimme Zeit für ihn, aber ich konnte ihm nicht helfen. Verstehen Sie? Ich war nicht stark genug, ihn zu unterstützen. Ich ging gerade dann, als er mich brauchte, und überließ ihn sich selbst und der Straße.«
Sabine sah aus dem Fenster, als könnte sie dort ihre Erinnerung verfolgen. Ein paar Minuten blieb sie so gedankenverloren stehen.
»Er schaffte es auch ohne mich«, fuhr sie plötzlich mit dunkler Stimme fort.
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