Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
müssen. Da er weder weitere Flüche noch Scheppern hörte, blinzelte er zwischen die Finger hindurch. Sein Bruder stand hilflos vor ihm und wusste nicht, wo er den Fernseher abstellen sollte. Schließlich lud er ihn auf dem Besuchertisch ab und klopfte sich die Hände, als ob er eine gute Arbeit beendet hätte. Doch ein Blick auf Marvins gerunzelte Stirn brachte ihn in Verlegenheit.
»Das war nicht gerade geschickt, nicht wahr?«
Marvin schüttelte den Kopf. »Nein, das war grobmotorisch.«
Basti senkte den Kopf und ließ sich mit der ungewaschenen Jeans auf das frische Krankenbett fallen.
»Was ich auch anfasse, mache ich falsch!«
»Das stimmt nicht!« Marvin legte seine Hand auf Bastis Knie. »Was du in den letzten Wochen für mich getan hast, war bemerkenswert. Ich bin dir sehr dankbar.«
Ungläubig verzog Basti das Gesicht. »Bist du dir sicher, dass du mich meinst?«
Marvin musste lachen. »Ja, ich bin mir sicher, dass ich dich meine.«
Aber Basti lachte nicht, sondern sah zu Boden und verstummte seltsam lange. Dann hob er mit einem Ruck den Kopf.
»Weißt du eigentlich, dass ich dich manchmal gehasst habe? Eifersucht ist stark, Marvin, sehr stark.« Selbstspöttisch versuchte er ein Grinsen. »Ich habe immer zu dir hochgesehen, auch wenn ich es dir nicht zeigen wollte. Mein ganzes Leben lang habe ich versucht, dir zu imponieren. Allen, die dich so bewundert haben, wollte ich zeigen, dass ich auch jemand bin. Aber sie haben mich alle nur mit dir verglichen. Dein Erfolg war für mich unerreichbar. Ich bin nicht so schlau wie du.«
»Ich wusste nicht, dass du so eifersüchtig warst.«
Basti nickte langsam und lange, bevor er weitersprach: »Du hast nie etwas bemerkt, Marvin. Deine Welt war stets eine heile Welt. Deine heile Welt! Hast du gewusst, dass ich mit Zwanzig von einer Brücke springen wollte? Ist dir je aufgefallen, wie viel weniger mir das Leben gegeben hat, als dir?«
Basti stoppte. Er erwartete eine Antwort. Doch Marvin konnte nichts sagen. Ihm fiel einfach nichts ein, was sinnvoll genug gewesen wäre. Nur eins fiel ihm ein. Nur das, dass er ihn liebte.
»Du bist … mein kleiner Bruder«, stammelte er verlegen. »Ich habe immer versucht, dich zu beschützen.«
»Ich weiß, Marvin. Das werde ich vermissen. Dich werde ich vermissen.«
Marvin vergaß fast, zu atmen. Minutenlang schwiegen sie nun, solange, bis Marvin seine Stimme wiederfand. »Ich habe die Bank angerufen.«
Basti kniff die Augen zusammen. »Wozu?«
»Das Geld – die Vierzigtausend, und etwas mehr, sollten heute deinem Konto gutgeschrieben sein.«
»Marvin … ich …«
»Schon gut. Ich wollte es so. Du hattest ja recht. Lisa hat genug. Noch mehr braucht sie nicht. Warum sollte ich dann nicht an meinen Bruder und meine Schwester denken. Und auch an Mutter! Lasst sie gut versorgen. Nehmt Julian für die Pflege! Der macht seine Arbeit gut.«
»Aber ich … ehrlich gesagt, möchte ich es jetzt nicht mehr.«
»Wie – du willst es nicht mehr?«
»Ich fühle mich schlecht damit. Ich will nicht, dass du denkst, ich hätte mich nur deshalb um dich gekümmert.«
Basti stand auf und begann mal wieder, auf und ab zu laufen. Marvin streckte sein Bein aus, um ihn auf halbem Weg zwischen Tür und Fenster zu stoppen.
»Nimm es! Es spielt keine Rolle für mich, aus welchen Beweggründen du das Ganze angefangen hast. Inzwischen weiß ich, dass ich dir das Geld auch so gegeben hätte.«
»Warum?«
Irritiert blieb Basti vor Marvin stehen.
»Weil ich dich liebe!«, sagte Marvin. »Ich liebe meinen Bruder und das Mindeste, was ich für ihn tun kann, ist ihn gut abgesichert zurückzulassen.«
Bastis Augen glänzten. »Du Arsch, jetzt hast du es wieder geschafft, Tränen aus mir herauszuquetschen.«
Beide lachten verheult.
»Hilf mir jetzt lieber mit den Sachen«, lenkte Marvin ab.
Gemeinsam erleichterten sie die mitgebrachte Tasche um einen diesmal sehr viel übersichtlicheren Haufen an Wäsche und Waschzeug. Doch als Basti den Reißverschluss der Seitentasche öffnen wollte, wehrte Marvin ab.
»Das nicht!«, rief er hektisch. »Das ist unwichtiger Kram, Zeitschriften und so. Das kann warten!« Marvin nahm die fast leere Tasche krampfhaft an sich. »Etwas muss ich ja auch selbst machen.«
Verwundert zuckte sein Bruder die Schultern. »Wenn du meinst.«
Eine halbe Stunde später verließ er ihn. Bald darauf kam die Oberärztin und besprach mit Marvin die geplante Therapie. Eine neue MRT wurde vorgenommen und er bekam die erste Infusion.
Es passierte,
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