Der Tod kann mich nicht mehr überraschen
»Bei irgendeiner Institution wurde er aufgefangen und war einer von denen, die es zurück in ihr bürgerliches Leben schafften. Er hätte mich sowieso nicht gebraucht.« Ihre Stimme wurde hart. »Tja – bald darauf wurde er krank.«
Sabine sah auf die kleine analoge Uhr, welche mit einer kurzen Kette an ihrem Kittel hing und erschrak. »Du meine Güte! Jetzt habe ich mich aber verquatscht!«
Eilig lief sie hinaus und ließ Marvin sauber gebettet und nachdenklich zurück.
Eigentlich waren sie sich nicht unähnlich, Sabine und Lisa, fand er. Sabine trug stets die Maske einer funktionierenden, aber herzlosen Krankenschwester. Auch Lisa trug eine Maske. Die Maske der Oberflächlichkeit. Wenn sie ihr ganzes Leben mit Banalitäten füllte, blieb schließlich kein Platz mehr für tiefere Gedanken und Sorgen. Aber hielt er selbst es denn so viel anders? Marvin dachte an seine Flucht in die Fehldiagnose. Er hatte es glauben wollen, obwohl sein Geist die Wirklichkeit kannte. Trotzdem hatte er der Verwirrung den Boden genährt und seinen Verstand außer Kraft gesetzt.
Mit Mühe stemmte er sich einarmig aus dem Bett und ließ sich in den bereitstehenden Rollstuhl fallen, der inzwischen zu einer Selbstverständlichkeit für ihn geworden war. Schnaubend und schwitzend wälzte er das Gefährt zum Waschbecken und betrachtete sich im Spiegel. Was sah er da? Einen kahlen Schädel und ein ausgemergeltes Gesicht, kalkweiß mit dunklen Augenrändern. War es nicht Zeit, seinem Tod mutig ins Auge zu blicken, seine Angst zu überwinden? Was war so schlimm am Tod? Die Gefühllosigkeit? Die Angst davor, sich mit den Gefühlen auch selbst zu verlieren?
Marvin wollte das ändern. Er wollte die Angst verlieren. Entschlossen nahm er sich vor, es als ein Geschenk zu betrachten, sich diese lange Zeit auf den letzten Tag vorbereiten zu können – zumindest mit dem Verstand. Nein – der Tod sollte ihn nicht überraschen. Es war die Flucht nach vorne – er wollte auf ein gutes Ende zuarbeiten. Das Testament lag ja schon in der Seite seiner Reisetasche, zusammen mit den beiden Schmuddelheften, die er immer noch nicht entsorgt hatte. Wohin auch? Hier im Krankenhaus etwa? Er musste die Putzfrau abwarten, am besten die Hefte in einem unbeobachteten Moment direkt in deren Abfallsack werfen.
»Du kommst zum richtigen Zeitpunkt«, rief er Karl zu, als der noch nicht ganz die Türschwelle überschritten hatte. Unter seiner Bettdecke holte er den Block hervor, auf dem er zu Hause seine zukünftigen Nachlässe verewigt hatte, und ließ seine Aufzeichnungen zwischen Daumen und Finger hindurch blättern. Es sollte Karl einen Eindruck vom Umfang seiner gedanklichen Ergüsse geben.
»Willst du deine Memoiren schreiben?«, fragte der nüchtern.
Marvin verzog seinen Mund zu einem unechten Grinsen.
»Dafür ist es, glaube ich, zu spät. Nein, ich habe mich mit meinem Nachlass befasst. Dies ist mein Testament.«
Karl starrte auf die zahlreichen Blätter und nickte.
»Das ist sehr vernünftig. Man sollte seine Angelegenheiten geregelt wissen, damit man in Ruhe gehen kann.«
Marvin zuckte ein wenig. Doch Karl hatte sicher durch seine Arbeit als Pfarrer eine andere Beziehung zum Tod, als der gewöhnliche Sterbliche. Unnötig für ihn, Marvin falsche Hoffnung vorzulügen, und er behandelte ihn auch nicht, als sei er bereits tot. Von ihm ließ sich die Wahrheit doch wohl ertragen, die Marvin nicht mehr leugnen wollte. Mit wem sonst sollte er darüber sprechen? Heute war er in der Stimmung, über Religion zu reden. Vielleicht konnte Karl ihm doch noch den Weg zu Gott zeigen, einem gnädigen und nachsichtigen Allmächtigen. Möglicherweise gab es diesen Schöpfer ja doch, nur dass Marvin dessen unergründliche Wege bis jetzt verborgen blieben und vielleicht konnte der Glaube an ihn Marvin das Sterben erleichtern.
Mit gerunzelter Stirn saß Karl auf dem Besucherstuhl und starrte auf das provisorische Testament.
»Meinst du, es wird zu umfangreich?«, fragte Marvin verunsichert.
Ruckartig riss Karl den Kopf hoch. Er sah für einen Augenblick irritiert aus.
»Was? … Nein, nein … ich war nur in Gedanken. Ich denke, du wirst es noch überarbeiten, so wie es aussieht.«
Marvin lachte auf. »Natürlich! Ich muss mir noch näher überlegen, wer nun was bekommen soll und das fällt mir schwer zurzeit. Mein Kopf macht nicht mehr so mit, wie ich es wünsche. Ich brauche mehr Zeit, die ich aber nicht habe. Meinst du, ich brauche einen Notar?«
»Nein – deine Unterschrift
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