Der Tod meiner Schwester
sie um die Ecke bog und entschwand.
Lange saß ich unbewegt da, den Brief mit seinen schrecklichen Implikationen im Schoß. KAPITEL vier war vergessen. Mein Körper fühlte sich schwer wie Blei an, und mein Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Egal wer sich als Mörder meiner Schwester herausstellen sollte, die Verantwortung für ihren Tod würde doch immer bei mir liegen.
2. KAPITEL
J
ulie
Eine halbe Stunde später saß ich noch immer mit dem Brief in meinem Schoß auf der Veranda, als ich zu meiner Überraschung Shannon auf unser Haus zukommen sah. Sie war relativ weit weg, doch ich hätte sie auf jede Entfernung erkannt. Sie war ein Meter fünfundsiebzig groß und hatte langes, kräftiges, fast schwarzes Haar. Schon vom Tag ihrer Geburt an hatte sie einfach außergewöhnlich ausgesehen.
Ich machte mir Sorgen um sie. Als Glen und ich ihr erlaubten, die dritte Klasse zu überspringen, hatte ich noch nicht daran gedacht, wie ich mich fühlen würde, wenn meine siebzehn Jahre alte Tochter aufs College ging und eine Welt außerhalb meines Einflussbereiches betrat. Ich hatte zumindest gerne die Illusion einer Kontrolle über das, was mit den Menschen, die ich liebte, geschah. Glen sagte, dass ich aus genau diesem Grund Romane schrieb. Das gäbe mir die totale Kontrolle über jeden einzelnen Charakter und jedes einzelne Ereignis. Vermutlich hatte er recht.
Doch da war mehr, was mir Sorgen bereitete. Während ihres letzten Jahres an der Highschool hatte sich Shannon verändert. Sie hatte niemals Komplexe wegen ihrer Größe gehabt; ihre Haltung war fast schon königlich, und die Art, wie sie ihr Haar mit einer Kopfbewegung über die Schulter warf, zeugte von Stolz und Selbstvertrauen. Doch in jüngster Zeit schien sie sich in ihrer Haut nicht recht wohlzufühlen. Ich war sicher, dass sie zugenommen hatte. Einige Abende zuvor hatte ich sie in ihrem Zimmer überrascht, als sie aus einer Schüssel rohen Kuchenteig aß! Ich erklärte ihr, dass sie sich von den rohen Eiern darin Salmonellen holen konnte, doch ich hätte sie am liebsten gefragt, ob ihr eigentlich klar war, wie viele Kalorien sie da zu sich nahm.
Manchmal erwischte ich sie dabei, wie sie mit ihren mandelförmigen Augen ins Leere starrte, und mit ihren Freundinnen ging sie kaum noch aus. Seit ihrem vierzehnten Geburtstag hatte sie den einen oder anderen Freund gehabt, doch ich hatte nicht den Eindruck, dass sie sich in den letzten sechs Monaten mit jemandem getroffen hatte. Ihre neue Häuslichkeit machte es mir leichter, ein Auge auf sie zu haben, dennoch bereitete mir diese plötzliche Verwandlung Sorgen.
“Ich möchte mein letztes Schuljahr einfach mit einem Ausrufezeichen beenden”, antwortete sie, als ich sie auf ihr verändertes Verhalten ansprach. “Ich will keine Versagerin sein.”
Ich wusste, dass Glen mit ihr darüber gesprochen hatte, wie wichtig es trotz ihrer frühen Zulassung fürs Oberlin Musikkonservatorium sei, auch im letzten Schuljahr ihre Noten zu halten. Kein Problem. Sie beendete die Highschool als Jahrgangssprecherin mit einem fast optimalen Notendurchschnitt, doch irgendetwas schien nicht zu stimmen. Ich fragte mich, ob sie Angst davor hatte, ihr Zuhause zu verlassen. Oder vielleicht zeigte sie eine verspätete Reaktion auf unsere Scheidung. Die lag fast zwei Jahre zurück, und ich hatte bislang den Eindruck gehabt, sie hätte sie gut verkraftet, auch wenn sie mich dafür verantwortlich zu machen schien. Doch vielleicht betrog ich mich ja selbst.
Als sie sich auf dem Gehweg näherte, erspähte sie mich.
“Hallo!” Sie winkte. Sie trug heute einen weiß-grün bedruckten Rock von der Art, wie meine Schwester Lucy sie gerne trug – lang und weit –, und er stand ihr sehr gut. Auch das gehörte zu den Veränderungen: Shannon schien ihre Hüfthosen gegen einen weiblicheren Stil eingetauscht zu haben.
“Was machst du denn zu Hause?”, rief ich von meinem Schaukelstuhl aus.
“Ich habe noch Zeit bis zur nächsten Stunde”, sagte sie. “Ich wollte eine Pause machen.”
Wir wohnten in der Nähe des Zentrums von Westfield in einer Gegend mit vielen Häusern, die aus der Jahrhundertwende stammten. Der Weg zum und vom Musikladen war kurz, ebenso wie der zur Kindertagesstätte, wo sie zwei Nachmittage die Woche aushalf und sich um die Kleinkinder kümmerte.
Mit einer Dose Vanilla Coke in der Hand kam sie die Verandatreppe hoch.
“Der Haarschnitt ist toll”, sagte sie, als sie sich in den Schaukelstuhl setzte, den Abby
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