Der Tod meiner Schwester
1. KAPITEL
J
ulie
Alle Kinder machen Fehler. Die meisten vergessen wir rasch, doch einige sind von zu großer Tragweite und zu verheerend, um sie je aus der Erinnerung zu streichen. Der Fehler, den ich mit zwölf machte, verfolgte mich noch mit dreiundfünfzig. Die meiste Zeit dachte ich nicht daran, doch an manchen Tagen geschah etwas, das mir alles urplötzlich wieder ins Gedächtnis rief und mich mit der Schuld jener Zwölfjährigen erfüllte, die es besser hätte wissen müssen. Dann wünschte ich mir verzweifelt, jenen Sommer 1962 noch einmal durchleben zu können. Der Montag, an dem Abby Chapman Worley vor meiner Tür stand, gehörte zu diesen Tagen.
Ich arbeitete fleißig an
The Broad Street Murders
, dem dreiunddreißigsten Roman meiner Granny-Fran-Serie. Hätte ich den Erfolg der Serie geahnt, hätte ich Fran Gallagher von vornherein jünger angelegt. Im ersten Buch war sie bereits siebzig. Und nun, dreizehn Jahre später, war sie dreiundachtzig und noch immer gut in Form, doch ich fragte mich, wie lange ich sie noch auf Mörderjagd schicken konnte.
Im Haus war es wunderbar ruhig. Meine Tochter Shannon, die am Samstag zuvor ihren Abschluss an der Westfield High School gefeiert hatte, gab in einem Musikgeschäft unten in der Stadt Cello-Unterricht. Die Juni-Luft draußen war klar und windstill, und da mein Haus in New Jersey an einer Straßenkurve lag, genoss ich von meinem sonnendurchfluteten Zimmer aus einen großartigen Blick auf die Nachbarschaft mit ihren leuchtend grünen Rasenflächen und den gepflegten Gärten. Ich schrieb einen oder zwei Sätze, starrte dann aus dem Fenster und erfreute mich an der Aussicht, während ich darüber nachdachte, was als Nächstes in meiner Geschichte passieren sollte.
Ich hatte das dritte Kapitel beendet und fing gerade das vierte an, als es an der Haustür klingelte. Ich lehnte mich zurück und überlegte, ob ich öffnen sollte oder nicht. Vermutlich war es nur ein Freund von Shannon, doch was, wenn ein Kurier vor der Tür stand, der einen Vertrag oder etwas anderes brachte, wofür er meine Unterschrift benötigte?
Ich spähte aus dem Vorderfenster. Kein Lieferwagen in Sicht. Ein weißer VW Beetle – ein Cabrio mit heruntergelassenem Dach – parkte allerdings vor meinem Haus. Da meine Konzentration nun sowieso unterbrochen war, konnte ich genauso gut nachsehen, wer da war.
Ich ging durch das Wohnzimmer, öffnete die Haustür, und meine Laune sank. Die schlanke junge Frau, die vor meiner Tür stand, war zu alt, um eine Freundin von Shannon zu sein, und ich befürchtete, dass es sich um einen meiner Fans handeln könnte. Obwohl ich meine Identität zu verbergen suchte, hatten mich einige meiner beharrlichsten Leserinnen im Lauf der Jahre ausfindig gemacht. Ich schätzte sie sehr und war dankbar für ihre Treue zu meinen Büchern, doch ich legte auch Wert auf meine Ungestörtheit, vor allem, wenn ich arbeitete.
“Ja?”, sagte ich mit einem Lächeln.
Das sonnengebleichte blonde Haar der Frau war kurz geschnitten, sodass es kaum ihre Ohren berührte, und sie trug eine sehr dunkle Sonnenbrille, die ihre Augen nicht erkennen ließ. Eine Aura von Perfektion umgab sie. Ihre Shorts mit dem Gürtel waren blitzsauber und hatten eine Bügelfalte, das malvenfarbene T-Shirt hatte sie ordentlich hineingesteckt. Über ihrer Schulter trug sie eine marineblaue kleine Handtasche.
“Mrs. Bauer?”, fragte sie und bestätigte damit meinen Verdacht. Julianne Bauer, mein Mädchenname, war zugleich mein Pseudonym. Freunde und Nachbarn kannten mich als Julie Sellers.
“Ja?”, fragte ich.
“Es tut mir leid, dass ich hier einfach so auftauche.” Sie steckte die Hände in die Taschen. “Mein Name ist Abby Worley. Sie und mein Vater – Ethan Chapman – waren als Kinder befreundet.”
Unwillkürlich schlug ich die Hand vor den Mund. Ich hatte Ethans Namen seit jenem Sommer 1962 nicht mehr gehört, doch auch einundvierzig Jahre später brauchte ich nur eine Sekunde, um ihn zuzuordnen. Vor meinem geistigen Auge war ich wieder in Bay Head Shores, wo der Bungalow meiner Eltern neben dem der Chapmans stand und wo die alles verändernden Geschehnisse jenes Sommers all die guten Sommer der vergangenen Jahre auslöschen sollten.
“Sie erinnern sich an ihn?”, fragte Abby Worley.
“Ja, natürlich”, erwiderte ich. Ich sah Ethan bei unserer letzten Begegnung vor mir – ein dürrer, bebrillter Zwölfjähriger mit Sommersprossen, ein zerbrechlich wirkender Junge mit rotem Haar
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