Der Tod meiner Schwester
ich.
“Shannon möchte den Sommer über zu Glen ziehen.”
“Oh”, sagte ich. Shannon hatte mit mir über diese Möglichkeit gesprochen. Sie kam mit ihren Angelegenheiten immer zu mir, bevor sie sie Julie unterbreitete. Sie erzählte mir Sachen, die sie keinem anderen Erwachsenen gegenüber erwähnen würde. Ich war diejenige, die ihr die Pille besorgt hatte, als sie fünfzehn war. Julie würde mich umbringen, wenn sie davon erfuhr. In diesem Jahr, in dem Shannon so alt war wie Isabel zum Zeitpunkt ihres Todes, schien Julie beinahe zu zerbrechen und hielt ihre Tochter nur umso fester, obwohl sie sie eigentlich loslassen sollte. Aus diesem Grund sagte ich Shannon, dass es zwar hart für ihre Mutter sein würde, wenn sie den Sommer über bei Glen wohnte, ich das aber für eine gute Idee hielt. Es konnte Julie dabei helfen, sie gehen zu lassen.
Meine geringe Überraschung über Julies Neuigkeit machte sie argwöhnisch.
“Wusstest du davon?”
“Sie erzählte mir, dass sie darüber nachdenkt”, gab ich zu.
Es gab eine kurze Pause in der Leitung. “Ich wünschte, du hättest es mir gesagt”, sagte sie.
“Sie hatte sich noch nicht entschieden, und ich fand, dass sie es dir sagen sollte.” Ich fühlte mich schuldig. “Es könnte für euch beide gut sein, Julie.”
Zwei Mittdreißiger gingen auf dem Parkplatz an mir vorbei, ohne mich überhaupt nur eines Blickes zu würdigen. Ich wurde bald fünfzig – jenes Alter, in dem Frauen unsichtbar werden. Ein Phänomen, das mich eher faszinierte als peinigte. Es schien über Nacht geschehen zu sein. Obwohl ich mein silber gesträhntes Haar vor vier oder fünf Jahren genauso getragen hatte wie jetzt – zu einem französischen Zopf geflochten und mit einem dichten Pony über der Stirn –, hatten sich damals noch einige Männer nach mir umgedreht. Meine Haut war fast genauso glatt und klar wie damals, und ich trug noch die gleiche Art von Kleidung, meistens lange Knitterröcke mit ärmellosen Strickoberteilen. Dennoch schienen Männer, egal ob in meinem Alter oder jünger, heute direkt durch mich hindurchzusehen. Vielleicht verströmte ich den Geruch des Verfalls. Es war mir egal. Ich machte eine lange, vielleicht nie endende Dating-Pause.
“Sie wirkt so … distanziert irgendwie”, klang Julie in meinem Ohr, sodass ich meine Aufmerksamkeit wieder auf unser Gespräch lenkte. “Sie verändert sich. Ist dir das aufgefallen? Ich glaube, sie hat zugenommen, und sie geht nicht mehr aus. Ich mache mir Sorgen um sie.”
Julie hatte recht. Shannon schien sich in letzter Zeit mehr zurückzuziehen, verhielt sich in unseren Gesprächen reservierter und rief nicht mehr so häufig an. Ihre körperliche Veränderung hatte ich erst am Sonnabend bemerkt, als ich sie über die Bühne gehen sah, um ihr Diplom in Empfang zu nehmen. Da war eine gewisse Schwere an ihr gewesen, mehr in ihrer Stimmung als an ihrem Körper, doch ich spielte es herunter, um Julie ihre Ängste zu nehmen. “Sie hat gerade einen Wachstumsschub”, behauptete ich. “Und was ihr soziales Leben angeht, hast du dich immer beklagt,
wenn
sie ausgegangen ist. Du solltest vorsichtiger sein mit deinen Wünschen.”
Julie seufzte. “Ich weiß.”
Wir beendeten unser Gespräch, und ich ließ das Handy wieder in meine Schultertasche gleiten, als ich den Parkplatz überquerte und das Restaurant betrat. Es war voll mit Kindern von der Garwood-Sommerschule, deren Schüler sich sehr von denen unterschieden, die ich an der Plainfield High School unterrichtete. Die Garwood-Schüler waren meistens Weiße und stammten aus der Mittelklasse, wohingegen die Schüler an der Plainfield unterschiedlichster Herkunft und ökonomisch benachteiligt waren. Ich lehrte dort Englisch als Fremdsprache, weil ich die Gesellschaft all dieser Kinder genoss, die trotz verschiedener Hautfarben und Sprachen der dringende Wunsch einte, dazuzugehören.
Ich erblickte meine Mutter am anderen Ende des Restaurants. In ihrer rot-weißen Uniform und mit einigen Tabletts in der Hand stand sie an einem Tisch, wo sie mit einer jungen Frau und deren zwei Kindern sprach. Viele meiner Freunde in meinem Alter mussten ihre Eltern in Pflegeheimen besuchen. Ich fand es großartig, dass ich meine Mutter bei McDonald’s besuchen konnte. Mom war die Empfangskraft, die immer für jeden ein Lächeln hatte, die die Kinder in der Spielzone beaufsichtigte und die den Laden mit genauso viel Sorgfalt aufräumte wie zu Hause. Sie wirkte auf mich kleiner als noch vor
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