Dreimal Liebe
Wenn man Farben schmecken könnte
Ein eisiger Windhauch strich über Tobias Schindlers blasses Gesicht, ließ ihn frösteln. Jemand musste ein Fenster im Klassenzimmer geöffnet haben. Jakob Dürling, der Junge, mit dem er sich einen Tisch teilte, raschelte seit ungefähr fünf Minuten mit einem Papier, während sein Fuß unaufhörlich auf und ab wippte. Tobias spürte das an der Erschütterung des Tisches.
Herr Halbeck, der einige Meter von Tobias entfernt war, hielt mit seiner kratzigen und manchmal zu hohen Stimme einen Vortrag über den Zweiten Weltkrieg. Dabei stand er nicht still, sondern schritt stetig von links nach rechts, was das leise und leicht quietschende Geräusch seiner abgelaufenen Schuhe verriet.
Weiter links von Tobias kämpfte ein Schüler mit einer verstopften Nase, doch anstelle diese zu putzen, schniefte er den bakteriellen Inhalt lieber im dreißig Sekunden Takt nach oben. Ein unangenehmes Geräusch.
Auch wenn es Tobias nicht gelang, die stetige Unruhe im Hintergrund komplett auszublenden, so galt seine Aufmerksamkeit trotzdem keinen von diesen Dingen. Sein Gesicht war leicht in die Richtung geneigt, in der er das Mädchen vermutete. Das einzige, was er von ihr kannte, war ihre weiche und meistens etwas zögerlich klingende Stimme sowie ihren lieblichen Geruch. Er wusste nicht, wie sie aussah. Wusste nicht, ob sie helle oder dunkle Haut hatte, sie dick oder dünn, ja nicht mal ob sie hübsch oder hässlich war. Um genau zu sein, wusste Tobias nicht einmal, was hübsch oder hässlich bedeutete.
Natürlich hatte er in all den Jahren seine eigene Definition von Schönheit geschaffen, aber diese hatte nichts mit sichtbaren, äußerlichen Reizen zu tun. Er war gezwungen, nach anderen Kriterien zu urteilen.
Ihren Geruch erkannte er sofort, wenn sie sich in seiner unmittelbaren Nähe befand oder er in ihrer Duftwolke lief. Blumig, wie frisch geschnittener Jasmin. Damals, als er vor über einem Jahr mit seinen Eltern in diese Kleinstadt gezogen war, wurde das Mädchen vom Direktor angewiesen, ihm die Schule zu zeigen. Tobias hatte sich während der kleinen und beiderseits unbeholfen wirkenden Führung keine Sekunde wohl gefühlt, er war sich wie eine Last für dieses Mädchen vorgekommen. Er hasste es, Umstände zu machen, und doch war er jeden Tag aufs Neue dazu gezwungen, anderen Menschen welche zu bereiten.
Seitdem war es nie wieder zu einem Gespräch zwischen ihm und dem Mädchen gekommen, und doch hatte sich ihr blumiger Duft, als sie ihn damals unbeabsichtigt gestreift hatte, und ihre weiche Stimme unvergessen bei ihm eingebrannt.
Seitdem wartete Tobias jeden Tag darauf, genau diese Stimme wieder zu hören. Doch das Mädchen sprach leider nur sehr selten im Unterricht. Allgemein schien sie ein sehr ruhiger, unauffälliger Mensch zu sein, denn auch im Trubel auf dem Pausenhof hörte er sie nie heraus.
Ihr Name war Anna. Und Tobias fand, dass es keinen passenderen für dieses Mädchen gegeben hätte. Anna . Dieses Wort war für ihn wie ein dickflüssiger Saft, der sich süßlich um seine Zunge legte.
Anna Bachmann saß genau eine Reihe links versetzt vor ihm. Tobias konnte nicht sehen, dass sie ihren Kopf leicht in seine Richtung gedreht hatte. Genau genommen konnte er weder sie noch irgendetwas anderes sehen, denn Tobias lebte in einer Welt umgeben von Dunkelheit.
Das war ein Grund von vielen, warum Anna, die vollkommen in Gedanken versunken an ihrem Bleistift kaute und gar nicht bemerkte, dass sie ihn schon wieder anstarrte, so unglaublich fasziniert von ihm war. Blindheit, sagte sie erneut zu sich selbst. Wie mochte das wohl sein? Sie kannte den Begriff, wusste, was er für eine wortwörtliche Bedeutung hatte. Aber wusste sie es wirklich? Konnte sie sich auch nur im Ansatz vorstellen, wie es sein musste, ohne Augenlicht zu leben? Den Sinn, auf den sie sich und auch alle anderen Menschen am meisten konzentrierte und verließ, einfach nicht zu besitzen?
Nein. Anna war sich sicher, dass sie es sich nicht vorstellen konnte. Sie hatte sich viel zu wenig auseinandergesetzt mit diesem Begriff, mit dieser Begebenheit und sie ohne groß darüber nachzudenken hingenommen – genau bis zu dem Tag, an dem sie zum ersten Mal mit Tobias konfrontiert wurde. Er war genauso alt wie sie, das hatte sie am meisten geschockt.
Wahrscheinlich, so vermutete Anna, würden die Leute sie auslachen, wenn sie wüssten, dass sie sich noch am selben Nachmittag dieser ersten Begegnung einen Schal um die Augen
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