Der tote Junge aus der Seine - Ein Fall fuer Kommissar LaBr a
Karrieresprung verdankte sie ihrer allseits bekannten Liaison mit dem stellvertretenden Fernsehdirektor. Dieser wiederum verdankte seinen Posten einer Laune des Staatspräsidenten.
Michel Delpierre schwitzte, als er die einzelnen Kamerapositionen für die Show festlegte. Den drei Bühnenarbeitern, die in die Rolle des Quizmasters und seiner beiden Kandidaten geschlüpft waren, ging es nicht anders. Die Luft im Studio war so stickig, dass jede Bewegung einen neuen Schweißausbruch nach sich zog.
Kurz vor eins. Michel Delpierre gab das Zeichen zur Mittagspause. Er, die Techniker und das übrige Personal flüchteten in die sendereigene Kantine. Dort surrte eine Klimaanlage, die auf Hochtouren lief. Es wurden bereits Wetten darauf abgeschlossen, ob sie demnächst ausfallen würde, wie so viele Klimaanlagen in der Stadt, die mit den Extremtemperaturen völlig überfordert waren. Eineinhalb Stunden kühle Luft, ein leichtes Sommermenü mit einem Glas Rosé oder Mineralwasser, danach gingen die Vorbereitungen für Delpierre im Studio weiter. Gegen neunzehn Uhr wurden die Kandidaten erwartet. Während sie in der Maske saßen, würde Yves Ribanville ein kurzes Vorgespräch mit ihnen führen. Seine ruhige, vertrauenerweckende Art kühlte das Lampenfieber seiner Kandidaten stets ein wenig ab. Um zwanzig Uhr fünfzig begann die Livesendung.
Zur selben Zeit aßen Yves Ribanville und seine Familie zu Mittag. Das großbürgerliche Appartement in der Avenue Montaigne im Achten Arrondissement (dreihundert Quadratmeter, acht Zimmer, drei Bäder) hatte einen derzeitigen
Marktwert von etwa zwölf Millionen Euro. Ribanvilles amerikanische Frau Candice hatte es mit in die Ehe gebracht - als Hochzeitsgeschenk ihres Vaters, eines texanischen Ölmagnaten. Inzwischen hatte Ribanville durch seine seit zwei Jahren laufende Show und die lukrativen Werbeverträge mit einer großen Supermarktkette und einem Versicherungsriesen so viel verdient, dass er sich eine solche Wohnung selbst hätte kaufen können. Doch das war ja nicht mehr notwendig.
Alle hatten die Hände gefaltet. Yves Ribanville, der in Interviews nie vergaß, zu erwähnen, dass er praktizierender Katholik und aktives Mitglied der Kirchengemeinde St. Philippe du Roule war, sprach das Tischgebet. Candice, eine Mittdreißigerin mit perfektem Make-up, grünblauen Augen, die früher einmal gestrahlt hatten und heute Enttäuschung um verlorenes Glück widerspiegelten, hatte eine gleichgültige Miene aufgesetzt. Sie und die beiden Töchter Joëlle und Lilly hielten die Köpfe gesenkt. Aus den Augenwinkeln sah Ribanville, dass die zwölfjährige Lilly ihre Fingernägel blutrot angemalt hatte.
»… und segne, was du uns bescheret hast. Amen.« Ribanville hob den Kopf und lehnte sich zurück.
»Amen«, erwiderten die anderen. Der Moderator nahm seine Serviette, legte sie auf den Schoß und runzelte die Stirn.
»Lilly, habe ich dir nicht neulich schon gesagt, ich mag keine roten Fingernägel?« Seine Stimme klang leise und weniger vorwurfsvoll als enttäuscht. Lilly verdrehte genervt die Augen und tauschte einen raschen Blick mit ihrer jüngeren Schwester.
»Ach Papa, was ist denn an roten Fingernägeln so schlimm?«
»Sie sehen nuttig aus.«
»Nuttig? Was ist denn das?«, wollte die neunjährige Joëlle von ihrer Mutter wissen.
Candice Ribanville, geborene Clark, bediente sich mit einer Portion Salat und reichte die Schüssel weiter. Statt ihrer Tochter zu antworten, wandte sie sich an ihren Mann. Ihre Stimme mit dem amerikanischen Akzent, den sie in all den Jahren nicht abgelegt hatte, klang kühl und distanziert.
»Lass doch solche Bemerkungen, Yves. Die Kinder können nichts damit anfangen.«
»Ich schon«, warf Lilly schnippisch ein. »Nuttig, das kommt von Nutte. Und’ne Nutte ist eine Frau, die …«
»Halt den Mund!«, fuhr Candice ihre Tochter an. »Ich dulde solche Gespräche nicht am Tisch! Außerdem hat dein Vater Recht. Rote Fingernägel sind ordinär. Deshalb entfernst du dir das Zeug gleich nach dem Essen.«
»Amen«, murmelte Lilly, verzog schmollend den Mund und nahm sich ein Stück Baguette.
Das Mittagessen verlief ohne viel Reden. Maria, das serbische Hausmädchen, servierte als Hauptgang gebratene Hühnerbrüstchen auf Spinatbett. Während Candice sich mehrfach Wein nachschenkte, trank Ribanville nur Mineralwasser. Seine Gedanken kreisten bereits um seine abendliche Sendung. Die Jubiläumssendung, die Einhundertste. Mit der Auswahl der beiden
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