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Der Totengarten

Der Totengarten

Titel: Der Totengarten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: George Pelecanos
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aufgerissen?«
    Ramone antwortete nicht. Er hatte ein Auge auf eine ganz bestimmte Frau geworfen, ausgerechnet eine Polizistin, um Himmels willen. Aber es wäre ihm nicht eingefallen, Holiday etwas Privates anzuvertrauen – so gut kannte er ihn inzwischen.
    »Komm schon, Kumpel«, drängte Holiday. »Ich hab dir meins gezeigt, jetzt zeig du mir deins. Hast du eine im Visier?«
    »Deine kleine Schwester«, sagte Ramone.
    Holiday fiel die Kinnlade herunter, und seine Augen funkelten böse. »Meine Schwester ist an Leukämie gestorben, als sie elf war, du Scheißkerl.«
    Ramone wandte den Blick ab. Eine Weile lang war nur das Quäken und Knistern der Funkgeräte und das leise Raunen der Schaulustigen zu hören. Dann lachte Holiday gackernd auf und klopfte Ramone auf die Schulter.
    »War nur ein Scherz, Giuseppe. O Mann, das hat aber gesessen.«
    Die Beschreibung des Opfers war mit einer Liste vermisster Teenager aus der Gegend abgeglichen worden. Eine halbe Stunde später wurde ein Mann an den Fundort gebracht, um das Mädchen zu identifizieren. Als er die Leiche sah, durchdrang der Schrei eines verzweifelten Vaters die Nacht.
    Das Opfer hieß Eve Drake. Im vergangenen Jahr waren bereits zwei andere schwarze Teenager, beide aus ärmeren Gegenden, unter ähnlichen Umständen ermordet aufgefunden worden. Beide wurden kurz nach Sonnenaufgang in Gemeindegärten entdeckt. Auch sie waren durch Kopfschüsse getötet worden, und bei beiden wurden Spermaspuren im Rektum gefunden. Die Ermordeten hießen Otto Williams und Ava Simmons. Ebenso wie Otto und Ava las sich auch der Vorname des jüngsten Opfers, Eve, vorwärts und rückwärts gleich. Die Presse hatte diese Verbindung bereits hergestellt und die Vorfälle die »Palindrom-Morde« genannt. Manche Ermittler bezeichneten den Täter als den »nächtlichen Gärtner«.
    Zur selben Zeit, als der Vater beim Anblick seiner ermordeten Tochter aufschrie, saßen am anderen Ende der Stadt junge Washingtoner zu Hause, schalteten Miami Vice ein, zogen Kokslinien und verfolgten die Abenteuer der beiden hippen Undercover-Ermittler und ihre Mission, die Drogenbosse aus dem Verkehr zu ziehen. Andere lasen Romane von Tom Clancy, John Jakes, Stephen King und Peter Straub oder trafen sich in Bars und redeten über die schwindenden Chancen der Washington Redskins, mit dem Trainer Jay Schroeder in die Play-offs zu kommen. Andere sahen sich Beverly Hills Cop und Cusak – Der Schweigsame auf Video an, die gefragtesten Filme der Woche in Erol’s Video Club, schwitzten mäßig zu Jane Fondas Aerobic oder gingen aus und sahen den neuen Film von Michael J. Fox im Circle Avalon oder Caligula im Georgetown Theater. Mr. Mister und Midge Ure traten in den Clubs der Stadt auf.
    Während diese dynamischen jungen Menschen der Reagan-Ära sich westlich des Rock Creek Park und in den Vororten vergnügten, arbeiteten Detectives und Spurensicherung an einem Verbrechensschauplatz nahe der Kreuzung von 33rd und E Street, im Viertel Greenway in Southeast D.C. Sie konnten nicht wissen, dass dies das letzte Opfer des Palindrom-Mörders sein würde. Im Augenblick war es nur ein toter Teenager, einer von drei ungelösten Mordfällen, und wer auch immer die Morde begangen hatte, lief irgendwo dort draußen frei herum.
    In jener kalten, regnerischen Nacht im Dezember 1985 waren zwei junge uniformierte Polizisten und ein Detective mittleren Alters vom Morddezernat vor Ort.

ZWEI
    Der drahtige kleine Mann, der in der Vernehmungszelle auf seinem Stuhl kauerte, hieß William Tyree. Ihm gegenüber saß Detective Paul »Bo« Green. Auf dem rechteckigen Tisch zwischen ihnen standen eine Dose Coca-Cola und ein Aschenbecher mit ausgedrückten Newports. Der Raum stank nach Rauch und Tyrees Crack-Ausdünstungen.
    »Sind das die Schuhe, die Sie anhatten?«, fragte Green und zeigte auf Tyrees Sneakers. »Die da?«
    »Das hier sind die Huaraches«, sagte Tyree.
    »Diese Schuhe, die Sie gerade anhaben – wollen Sie damit sagen, dass Sie die gestern nicht getragen haben?«
    »Nee, Hm-m.«
    »Verraten Sie mir eins, William: Welche Schuhgröße haben Sie?«
    In Tyrees Haar hingen Staubflocken. Unter dem linken Auge hatte er eine kleine Schramme, die bereits verschorft war.
    »Die hier sind neuneinhalb«, antwortete Tyree. »Aber eigentlich habe ich Größe zehn. Die Nikes fallen groß aus, wissen Sie.«
    Detective Sergeant Gus Ramone, der die Vernehmung über einen Monitor im Nebenraum verfolgte, musste zum ersten Mal an diesem Tag

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