Der Totenleser
leuchtete eine Papierlaterne vor einer offenen Tür, der Duft von Tee lag in der Luft, während Ci wie ein geisterhafter Schatten vorüberzog. Das Dorf wirkte zu dieser Stunde noch recht verlassen, und kein anderes Geräusch war zu hören als das Jaulen der Hunde.
Als er die Residenz von Bao-Pao erreichte, war es taghell. Feng stand in der Vorhalle, bekleidet mit einer kohlschwarzen Robe aus Sackleinen und einem Hut in derselben Farbe. Sein Gesicht verriet keine Regung, doch seine Hände trommelten ungeduldig. Nach der vorschriftsmäßigen Verbeugung drückte Ci ihm seinen Dank aus.
»Ich werde nur einen kurzen Blick auf den Toten werfen können, also spar dir deine langen Worte«, sagte Feng. Als er Cis Enttäuschung bemerkte, fügte er freundlicher hinzu: »Ci, es ist nicht mein Amtsbereich … Aber es würde mich doch wundern, wenn sich die Sache nicht schnell aufklären ließe. In so einem kleinen Dorf den Schuldigen zu finden sollte nicht schwieriger sein, als einen Kieselstein aus dem Schuh zu schütteln.«
Ci folgte dem Richter bis zu einem angrenzenden Schuppen. Vor dem Eingang trafen sie auf einen schweigsamen Mann mit mongolischen Zügen, der sich als der persönliche Assistent von Feng herausstellte. Im Inneren wartete der Dorfvorsteher Bao-Pao, zusammen mit der Witwe und den männlichen Nachkommen des Verstorbenen. Als Ci den geschändeten Leichnam Shangs erblickte, krampfte sich sein Magen zusammen. Die Familie hatte den Toten auf einen Holzstuhl gesetzt: aufrecht und den Kopf mit einigen geflochtenenSchilfhalmen am Rumpf befestigt saß Shang da, ganz so, als sei er noch lebendig. Obwohl er gewaschen, parfümiert und bekleidet worden war, glich er einer blutüberströmten Vogelscheuche. Richter Feng bezeugte den Familienmitgliedern seinen Respekt, nahm sie einen Moment beiseite und bat sie um Erlaubnis, den Leichnam zu untersuchen. Nachdem der Erstgeborene es ihm gestattet hatte, trat Feng neben den Toten.
»Erinnerst du dich, was du tun musst?«, fragte er Ci.
Ci nickte eifrig. Er zog ein Blatt Papier aus der Tasche, seinen Tintenstein und seinen besten Pinsel. Dann kniete er sich neben den Leichnam auf den Boden. Feng fluchte leise darüber, dass sie den Leichnam gewaschen hatten, dann begann er mit der Arbeit.
»Zweiundzwanzigster Mond im Monat der Lotusblüte, Jahr zwei der Kaixi-Ära,Vierzehntes Regierungsjahr unseres geliebten Nin Zong, Sohn des Himmels und ehrenwerter Kaiser der Song-Dynastie. Mit ausdrücklicher Genehmigung der Angehörigen führe ich, Richter Feng, eine behelfsmäßige Voruntersuchung vor der offiziellen Untersuchung durch, die innerhalb von vier Stunden nach der Bekanntgabe des Richters erfolgen muss, den die Präfektur Jianningfu erwählt. Ich führe sie durch in Gegenwart von Li Cheng, dem ältesten Sohn des Toten, seiner Witwe Frau Li, den beiden anderen männlichen Nachkommen Ze und Xin sowie von Bao-Pao, dem Oberhaupt des Dorfes, und meinem Gehilfen Ci, der den Leichnam aufgefunden hat.«
Ci schrieb auf, was Feng diktierte, und wiederholte dabei jedes Wort laut. Feng fuhr fort.
»Der Tote mit Namen Li Shang, Sohn und Enkel von Li, der nach Aussage des Erstgeborenen zum Zeitpunkt seines Dahinscheidens achtundfünfzig Jahre zählte und von BerufBuchhalter, Bauer und Schreiner war, wurde vorgestern Mittag zum letzten Mal gesehen, nachdem er seine Arbeit im Lagerhaus von Bao-Pao, in dem wir uns augenblicklich befinden, beendet hatte. Sein Sohn sagt aus, dass der Verstorbene keine weiteren Krankheiten hatte als die üblichen Beschwerden seines Alters und der Jahreszeiten und dass nichts über eventuelle Feinde bekannt sei.«
Feng schaute hinüber zum ältesten Sohn, der sich beeilte, die Angaben zu bestätigen, und dann zu Ci, als Aufforderung, das Geschriebene noch einmal vorzulesen.
»Aus Unkenntnis der Familienangehörigen ist der Körper gewaschen und bekleidet worden«, fuhr Feng mit tadelnder Stimme fort. »Sie selbst bezeugen, dass sie in dem Moment, als ihnen der Leichnam übergeben wurde, keine weiteren Verletzungen als den grausamen Schnitt erkennen konnten, der seinen Kopf vom Körper trennte und der zweifellos die Todesursache darstellt. Der Mund des Toten steht weit offen …« Feng versuchte vergeblich, ihn zu schließen. »… und das Kiefergelenk ist versteift.«
»Werdet Ihr ihn nicht entkleiden?«, wunderte sich Ci.
»Das ist nicht nötig.« Feng deutete auf den Schnitt in der Kehle und schaute fragend zu Ci.
»Doppelschnitt?«, vermutete der
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