Der Trafikant / ebook (German Edition)
ansonsten etwas für Hirn und Horizont tun, sprich: Zeitungen lesen. Die Zeitungslektüre nämlich sei überhaupt das einzig Wichtige, das einzig Bedeutsame und Relevante am Trafikantendasein; keine Zeitungen zu lesen hieße ja auch, kein Trafikant zu sein, wenn nicht gar: kein Mensch zu sein. Aber natürlich könne man unter einer richtigen Zeitungslektüre nicht einfach nur das flüchtige Durchblättern eines oder vielleicht zweier armseliger Tagesblättchen verstehen. Eine richtige, weil eben Hirn und Horizont gleichermaßen erweiternde Zeitungslektüre beinhalte alle sich auf dem Markt (also auch in der Trafik) befindlichen Zeitungen, wenn schon nicht von vorne bis hinten, so doch zumindest zu einem größeren Teil, was da heiße: Aufmacher, Leitartikel, die wichtigsten Kolumnen, die wichtigsten Kommentare sowie die wichtigsten Meldungen aus Politik (Innen und Außen), Lokales, Wirtschaft, Wissenschaft, Sport, Kultur, Gesellschaft und so weiter. Das Zeitungsgeschäft bilde ja bekanntermaßen das Kerngeschäft jeder ernstzunehmenden Trafik, und der Kunde, respektive der Zeitungskäufer, wolle (sofern er nicht sowieso schon einer der vielen intellektuell oder emotional oder politisch an ein bestimmtes Druckerzeugnis gebundener Stammleser sei) vom Trafikanten dementsprechend beraten, informiert und gegebenenfalls mit sanftem Nachdruck oder nachdrücklicher Sanftmut an das für ihn, den Kunden, den Leser, den Zeitungskäufer, an diesem Tage, zu dieser Stunde, in dieser Stimmung einzig angemessene Blatt herangeführt werden. Ob Franz das jetzt auch richtig verstanden habe?
Franz nickte.
Dann das Rauchzeug. Mit den Zigaretten sei es ja noch einigermaßen einfach. Zigaretten könne schließlich jeder dahergelaufene Bauernlümmel, der sich vielleicht zufällig aus dem Salzkammergut oder sonst irgendwoher in eine Trafik hineinverirrt habe, verkaufen. Was beim Bäcker die Semmeln, das seien beim Trafikanten die Zigaretten. Bekanntlich kaufe man weder Semmeln noch Zigaretten wegen des Geschmacks oder des guten Aussehens, sondern einzig und alleine wegen des Hungers beziehungsweise der Sucht. Womit über den Semmel- respektive über den Zigarettenverkauf eigentlich schon alles gesagt und festgehalten wäre. Ganz anders – aber wirklich ganz anders! – verhalte es sich mit den Zigarren. Erst mit dem Verkauf von Zigarren nämlich werde aus einer ernstzunehmenden Trafik auch eine vollkommene Trafik; erst das Aroma, der Duft, der Geschmack und die Würze einer gehörigen Auswahl von Zigarren verwandle einen stinknormalen Zeitungsverkaufsstand mit Rauchwarenzubehör in einen Tempel sowohl des Geistes als auch des Genusses. Ob das für Franz so weit irgendwie nachvollziehbar sei?
Franz nickte und setzte sich auf seinen Hocker.
Das Problem, meinte Otto Trsnjek mit einem traurigen Blick auf das bis unter die Decke dicht mit Zigarrenkisten vollgeräumte Wandregal, das große Problem für das Zigarrengeschäft sei – so wie für vieles andere übrigens auch – die Politik. Die Politik verhunze nämlich grundsätzlich alles und jedes, und da sei es ziemlich egal, wer da gerade mit seinem breitgesessenen Hintern die Regierung bilde, ob der Kaiser selig, der Zwerg Dollfuß, sein Lehrling Schuschnigg oder drüben der größenwahnsinnige Hitler: Von der Politik werde alles und jedes verhunzt, verpatzt, versaut, verdummt und überhaupt irgendwie zugrunde gerichtet. Zum Beispiel das Zigarrengeschäft. Gerade und vor allem das Zigarrengeschäft! Es seien ja heutzutage kaum noch Zigarren zu kriegen! Die Lieferungen stockten, seien unzuverlässig und unberechenbar geworden, die Schwankungen in den Lagerbeständen seien enorm, mit stetiger Tendenz nach unten, so manche Kiste sei schon vor Wochen und Monaten leergekauft worden und stünde nur mehr hier zur Dekoration, praktisch als eine Art trauriges Andenken an bessere Zeiten!
»Genauso ist das und nicht anders«, sagte Otto Trsnjek und betrachtete Franz nachdenklich. Dann nahm er seine Krücken, bewegte sich mit wenigen Schwüngen wieder hinter die Theke, holte seinen Aktenordner aus der Schublade, klemmte seine Zungenspitze zwischen die Schneidezähne und fuhr fort, in seiner Buchhaltung herumzukratzen.
Von nun an erschien Franz jeden Tag pünktlich um sechs Uhr morgens in Otto Trsnjeks Tabaktrafik. Da er als Wohn-, Bade- und Schlafzimmer die kleine Lagerkammer direkt hinter dem Verkaufsraum zugewiesen bekommen hatte, war der Weg zur Arbeit angenehm kurz. Mit einer für ihn
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