Der Trafikant / ebook (German Edition)
besser macht: Er schuldet mir einen Gefallen.«
»Wofür denn?«
Die Mutter zuckte mit den Achseln und zupfte sich mit spitzen Fingern eine Schleierfalte zurecht. »Die Saison damals war heiß, und wir waren jung und recht dumm im Schädel …«
Am Ufer ruckte der Reiher plötzlich mit seinem Kopf, stach mit dem Schnabel ein paar Mal in die Luft, breitete die Flügel aus und hob ab. Eine Weile verfolgten sie seinen Flug, bis er schließlich abtauchte und hinter dem Schilfstreifen verschwand.
»Mach dir keine Gedanken, Franzl, das war lange bevor du mir in den Schoß gefallen bist«, sagte sie. »Jedenfalls hab ich ihm geschrieben. Dem Otto Trsnjek nämlich. Ob er eine Arbeit hat für dich.«
»Und?«
Statt einer Antwort griff sich die Mutter unter ihre schwarze Strickweste und zog einen amtlich aussehenden Zettel hervor. Es war ein Telegramm mit blauen, akkuraten Druckbuchstaben: DER BUB SOLL KOMMEN STOP ABER NICHT ZU VIEL ERWARTEN STOP DANKE STOP OTTO STOP
»Und was heißt das jetzt?«, fragte Franz.
»Das heißt, du machst dich morgen auf den Weg nach Wien!«
»Morgen? Aber das geht doch nicht …«, stammelte er erschrocken. Im nächsten Moment gab sie ihm wortlos eine Ohrfeige. Der Schlag traf ihn so plötzlich, dass er zwei Schritte zur Seite taumelte.
Am nächsten Tag saß Franz im Frühzug nach Wien. Die dreizehn Kilometer zum Bahnhof von Timelkam waren er und die Mutter zu Fuß gegangen, um Geld zu sparen. Der Zug kam pünktlich, der Abschied war kurz, schließlich war alles gesagt und getan. Sie küsste ihn auf die Stirn, er tat ein bisschen grantig, nickte ihr zu und stieg ein. Während der alte Dieseltriebwagen Fahrt aufnahm, streckte Franz seinen Kopf zum Fenster hinaus und sah die winkende Mutter auf dem Bahnsteig immer kleiner werden, bis sie schließlich ganz verschwand, ein undeutlicher Fleck im morgendlichen Sommerlicht. Er ließ sich in seinen Sitz fallen, schloss die Augen und atmete so lange aus, bis ihm ein bisschen schwindelig wurde. Erst zweimal in seinem Leben hatte er das Salzkammergut verlassen: Einmal waren sie nach Linz gefahren, um einen Anzug für den ersten Schultag zu kaufen, und ein anderes Mal ging es mit der Volksschulklasse nach Salzburg, wo sie einem trostlosen Blechorchesterkonzert zuhörten und den Rest des Tages zwischen alten Gemäuern herumstolperten. Doch das waren nur Ausflüge, nichts weiter. »Das hier ist etwas anderes«, sagte er leise zu sich selbst, »etwas völlig und ganz anderes!« Vor seinem Inneren tauchte die Zukunft auf wie ein weit entfernter Uferstreifen aus dem Morgennebel: noch ein bisschen undeutlich und verwischt, aber doch auch verheißungsvoll und schön. Und auf einmal fühlte sich alles irgendwie leicht und angenehm an. Es war, als ob mit der verschwommenen Gestalt der Mutter auf dem Bahnsteig von Timelkam auch ein großer Teil seines Körpergewichtes zurückgeblieben wäre. Fast schwerelos saß Franz jetzt im Zugabteil, spürte das rhythmische Rattern der Schwellen unterm Hintern und raste mit der unvorstellbaren Geschwindigkeit von fast achtzig Kilometern pro Stunde in Richtung Wien.
Als der Zug eineinhalb Stunden später aus dem Voralpengebirge herausfuhr und sich die weite Helligkeit der niederösterreichischen Hügellandschaft vor ihm öffnete, hatte Franz bereits den kompletten Inhalt des mütterlichen Proviantpakets zusammengegessen und fühlte sich wieder so schwer wie eh und je.
Die Fahrt verlief ohne nennenswerte Vorkommnisse, eher langweilig. Nur einmal, auf dem Streckenabschnitt zwischen Amstetten und Böheimskirchen, musste der Zug einen außerplanmäßigen Halt einlegen. Ein heftiger Ruck ging durch die Waggons, und schnell verloren sie an Geschwindigkeit. Die Gepäckstücke purzelten aus den Netzen, ein ohrenbetäubendes Quietschen ertönte, überall Geschimpfe und Geschrei, dann ein weiterer Ruck, noch ein bisschen heftiger als der erste – und der Zug kam zum Stehen. Mit seinem gesamten Gewicht hatte sich der Lokführer an den gusseisernen Bremshebel hängen müssen, weil in einiger Entfernung auf den Schienen ein großer, dunkler, irgendwie haufenartiger, in jedem Fall aber verdächtiger Gegenstand aufgetaucht war. »Wahrscheinlich wieder die Sozis!«, knurrte der Schaffner, während er mit flatterndem Fahrkartenblock durch die Waggons nach vorne eilte. »Oder die Nazis! Wär aber sowieso egal: Ist eh alles das gleiche Gsindel!«
Wie allerdings bald klar wurde, handelte es sich bei dem verdächtigen Gegenstand
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