Der Trafikant / ebook (German Edition)
herauszulösen, bis Franz sie schließlich sogar mit Namen und dem dazugehörigen, in Wien überlebenswichtigen, Titel begrüßen konnte. Da war zum Beispiel Frau Dr. Dr. Heinzl, die die Universität nicht einmal als Gebäude erkannt hätte, geschweige denn sie jemals betreten hatte. Frau Dr. Dr. Heinzl war zweimal verheiratet gewesen, einmal mit einem jüdischen Zahnarzt und später mit einem schon bei der Hochzeit steinalten Juristen. Die beiden Herren folgten den meisten anderen Wienern auf ihren letzten Weg zum Zentralfriedhof, die Doktortitel jedoch blieben und wurden fortan von der Witwe Heinzl stolz durch die Gegend getragen. Außerdem trug sie eine bläuliche Perücke, fächelte sich auch im Winter mit einem Paar lachsfarbener Seidenhandschuhe beständig Luft ins Gesicht und verlangte jeden Tag mit leicht näselndem Aristokratenton ein Exemplar der Wiener Zeitung und der Reichspost . Der erste Kunde des Tages aber war der pensionierte Parlamentsdiener Kommerzialrat Ruskovetz. Der Kommerzialrat kam jeden Morgen kurz nach Ladenöffnung in Begleitung seines inkontinenten Dackels und verlangte nach dem Wiener Journal und einer Packung Zigaretten der Marke Gloriette . Manchmal wechselten er und der Trafikant einige wenige Worte über das hundsmiserable Wetter oder über die vertrottelte Regierung, während der Dackel gelbliche Tropfen auf die Dielen fallen ließ, die Franz anschließend mit einem feuchten Reibefetzen aufzuwischen hatte. Am Vormittag polterten die Arbeiter herein, holten sich das Volksblatt oder das Kleine Blatt und verlangten nach einzelnen Zigaretten, die Otto Trsnjek aus einem Einmachglas herausfischte und ihnen in die schwieligen Hände zählte. Obwohl manche von ihnen schon in der Früh nach Bier rochen und sie mit ihren klobigen Schuhen ziemlich viel Dreck von draußen mitbrachten, mochte Franz die Arbeiter. Sie redeten nicht viel, hatten kantige Gesichter und wirkten insgesamt wie die staubigen Brüder der heimatlichen Waldarbeiter. Um die Mittagszeit kamen dann die Rentner und die Studenten. Die Rentner fragten nach der Österreichischen Woche , die Studenten holten sich ein paar Egyptische , dazu die Wiener Zeitung , Schreibpapier und die neuesten Witzblätter. Am frühen Nachmittag erschien der alte Herr Löwenstein um ein oder zwei Schachteln Gloriette . Danach war die Zeit der Hausfrauen. Die Hausfrauen dufteten entweder nach Putzmittel oder nach Kirschlikör, erzählten viel und fragten viel und verlangten zwischendurch nach dem Kleinen Frauenblatt oder anderen interessanten Journalen für die moderne Dame. Der stark kurzsichtige Juristikar Kollerer schaute vorbei und kaufte seinen täglichen Langen Heinrich , eine dünne, langstielige Zigarillo, sowie je ein Exemplar des Bauernbündler und des Wienerwaldboten . In unregelmäßigen Abständen betrat der Rote Egon die Trafik. Der Rote Egon war ein bezirksbekannter Spiegelsäufer und – trotz des Parteienverbots – ein zu allen Gelegenheiten öffentlich und lautstark bekennender Sozialdemokrat. Seine Gestalt war hager, seine Miene finster, aber irgendwo hinter seiner hohen Stirn flackerte ein Feuer, das nie zu erkalten schien. Kaum hatte er die Tür aufgestoßen, begann er von Revolutionen zu erzählen, von Aufständen, Umbrüchen oder Umstürzen, die längst schon irgendwo im Gange seien und die die auf den Knochenmehlbergen der zermürbten, zerdrückten und zermahlenen Arbeiterschaft errichtete Kapitalistenwelt in ihre verdienten Trümmer reißen würden. Hernach starrte er meistens noch eine Weile düster in die Regale, entschied sich schließlich für eine Schachtel Filterlose, bezahlte und ging. Schulkinder purzelten herein und fragten nach Buntstiften oder Sammelbildchen, alte Damen wollten plaudern, alte Herren wollten ihre Ruhe und schweigend Titelbilder betrachten. Manchmal bat einer der männlichen Stammkunden mit verräusperter Stimme, einen Blick in die »Lade« werfen zu dürfen. Es war dies eine unauffällige Schublade unter der Verkaufstheke, die von Otto Trsnjek immer sorgfältig verschlossen gehalten und eben nur auf besonderen Kundenwunsch geöffnet wurde. Darin befanden sich die seit Jahren streng verbotenen, sogenannten »Zärtlichen Magazine« (beziehungsweise die »Wichsheftln« oder »Hobelbroschüren«, wie der Trafikant sie gegenüber Franz zu nennen pflegte). Die Männer blätterten ein bisschen darin herum, versuchten währenddessen eine möglichst uninteressierte Miene aufzusetzen und nahmen dann
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