Der Traum der Hebamme / Roman
geheim zu halten.
Nur wenige auf der Burg waren in Dietrichs und Lukas’ thüringische Mission eingeweiht. Auf Norberts Betreiben glaubten Burgbesatzung und Flüchtlinge, der Graf würde entweder Kriegsrat halten oder mit dem Pater für einen glücklichen Ausgang des Krieges beten. Manche munkelten auch, er wolle niemanden sehen, weil er keinen Ausweg wisse. Das war zwar nicht gerade gut für die Stimmung, doch das mussten sie in Kauf nehmen. In drei Tagen, so Gott wollte, wenn es ihnen gelang, das Schicksal zu wenden, würde niemand mehr an Dietrichs Mut zweifeln.
Doch wie der Kommandant noch Disziplin halten sollte unter den Flüchtlingen, dafür gingen ihm langsam die Ideen aus. Er fragte sich, wann wohl die Ersten forderten, dass Dietrich sich ergab – oder Verräter die Burg auslieferten.
Zum Glück erwies sich diese Marthe als tüchtige Hilfe. Sie tat, was sie konnte, hielt die Ängstlichen beschäftigt, richtete sie auf und sorgte dafür, dass alle zu essen bekamen, aber beim Bier knapp gehalten wurden.
Von seinem Beobachtungsposten hatte Norbert mitbekommen, dass es einen Zwischenfall auf dem Burghof gegeben hatte – wieder einmal! –, und sah nun zu seinem Erstaunen Lukas’ Frau mit energischen Schritten zum Turm kommen.
Es musste wohl eine ernstere Sache sein, sonst würde sie ihn nicht hier aufsuchen.
»Norbert, ich weiß, Ihr seid beschäftigt, doch ich muss dringend mit Euch reden«, sagte sie leise, aber mit Nachdruck, als sie oben angelangt war.
Der hagere Kommandant sah sie kurz an, gab einem seiner Männer ein Zeichen und ging mit ihr einige Schritte zur Seite.
»Sprecht mit Gottfried! Wenn er seine Frau nicht dazu bringen kann, dass sie sich zusammenreißt, muss er dafür sorgen, dass sie ihre Kammer nicht mehr verlässt«, forderte Marthe unnachgiebig. »Sie hat vorhin ein Kind fast totgeschlagen, den kleinen Simpel. Und das war nur ihr letzter Wutausbruch. Sie macht mir die Leute verrückt, und das können wir uns nicht erlauben.«
Norbert stellte ihre Forderung gar nicht erst in Frage. Er hatte längst erkannt, dass Gertrud angesichts der Lage keine Hilfe mehr war, er aber auf das Urteilsvermögen von Lukas’ Frau trauen durfte. In vielem war ihm, als sähe er eine zierlichere und reifere Ausgabe von Clara vor sich. Manchmal ertappte er sich sogar bei dem Gedanken, ob ihm nicht vielleicht auch Marthe eine gute Frau sein könnte. Für sein Werben um Clara hatte einfach der Wunsch den Ausschlag gegeben, die junge Frau zu beschützen. Schließlich waren sie beide verwitwet und sollten sich wieder vermählen.
Marthe dagegen reizte und faszinierte ihn auf eine ganz andere Art, als es ihre Tochter tat, die seinen Antrag mit höflichen Worten abgelehnt hatte. Feingliedrig und zart gebaut, wie sie war, traute man ihr nicht zu, dass sie schon Kinder geboren hatte, die bereits erwachsen waren. Sie musste immer noch fast fünfzehn Jahre jünger sein als er.
Mahnend rief er sich ins Gedächtnis, dass Marthe mit Lukas vermählt war. Andererseits: In drei Tagen würde eine blutige Schlacht um Weißenfels geschlagen werden, und so wie er dabei sterben konnte, bestand die Möglichkeit, dass Lukas fiel.
Hastig und mit einer Spur schlechten Gewissens schob er diesen Gedanken beiseite. Du sollst nicht begehren deines Nächsten Weib!
Auch ungeachtet seiner Sympathien musste er Marthe recht geben, was Gertrud betraf. Jeden Augenblick konnte die Stimmung umschlagen, und er hatte zu wenige Kämpfer, um Disziplin zu erzwingen. Wenn hier – womöglich ausgelöst durch die verrückt gewordene Gertrud – erst eine Panik ausbrach, war alles verloren.
»Hol Gottfried hierher, rasch!«, befahl er einem der Männer in der Nähe, der sofort losrannte. Dann wandte er sich wieder Marthe zu. »Ihr habt recht. Ich danke Euch – dafür und für Eure Hilfe.«
Marthe nickte ihm kurz zu und ging wieder die Treppe hinab.
Sie hasste es, was sie eben hatte tun müssen. Sie wollte nicht über andere Menschen entscheiden oder befehlen. Sie hatte nie Macht über andere haben wollen. Doch mit den Jahren musste sie lernen, dass es manchmal nicht anders ging. Man konnte nicht durch den Schlamm waten, ohne sich die Füße schmutzig zu machen.
Wo steckst du, Lukas?, dachte sie immer eindringlicher, als könnte sie ihn allein mit der Kraft ihrer Gedanken herbeiwünschen. Und hält Hermann Wort?
Alte Feindschaften
A m vierten Tag näherte sich eine Gruppe von zehn Berittenen der behelfsmäßigen Gegenburg. Der Duft
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