Der Traum der Hebamme / Roman
Händen über dieses winzige Gesicht zu streichen. So schwer es auch fiel, er wollte seine Nichte nicht aufwecken. Er und seine Schwester hatten in dieser Nacht noch viel miteinander zu bereden.
»Ich war mitten in den Wehen, als Daniel ins Haus gestürzt kam und rief, dass wir sofort aufbrechen müssen«, begann Clara zu erzählen, während sie ihn zur Bank zog und ihm einen Becher füllte. »Hartmut, der alte Waffenmeister, hatte unserem Bruder zur Flucht vom Meißner Burgberg verholfen. Daniel hielt sich mit seinen fünfzehn Jahren wie ein Mann. Du wärst stolz auf ihn gewesen. Und Vater auch.«
»Auf dich aber ebenso – in dem Zustand auf Reisen zu gehen!«, sagte Thomas ungläubig.
»Zur Welt kam sie mitten im Wald, dicht hinter Freiberg. Wir schlugen uns erst zu Rolands Eltern durch und dann hierher.«
Rolands Eltern. Es war, als hätte ihm jemand die Faust in den Magen gerammt. Er musste Raimund und Elisabeth die Nachricht vom Tod ihres einzigen Sohnes überbringen.
»Hartmut half auch Mutter im Kerker und bezahlte dafür mit dem Leben.«
»Der unerbittliche alte Waffenmeister? Der uns Knappen so herumgescheucht hat? Das hätte ich nie von ihm gedacht«, murmelte Thomas.
»Ja. Und in unserem Haus sitzt nun ausgerechnet Randolfs Sohn und schindet die Leute.«
»Rutger?« Thomas richtete sich auf und ballte die Fäuste. Sein Todfeind machte sich in ihrem Haus breit? Er hatte diesen rothaarigen Hurensohn schon vor seinem Aufbruch zum Heerlager des Kaisers töten wollen. Doch Clara und auch Roland hatten damals seinen Hass gegen den Gleichaltrigen stets getadelt. Er dürfe die Feindschaft zwischen ihren Vätern, die mit einem Gottesurteil zugunsten Christians und also Randolfs Tod endete, nicht auf den Sohn übertragen.
»Rutger hat meinen Mann verraten und ihn Albrecht in Ketten zu Füßen geworfen, damit der ihm den Kopf abschlug«, fuhr Clara bitter fort. »Und er fesselte und knebelte unsere Mutter und stieß sie ins Verlies.«
Nach einem Moment der Stille sagte sie mit fester, ungewohnt harter Stimme zu Thomas’ Überraschung: »Ich will, dass du ihn dafür tötest!«
»Das werde ich«, versprach Thomas in beinahe unheimlicher Gelassenheit.
Dann zog er seine Schwester erneut an sich, um sie und sich zu trösten. Bis zum Morgengrauen saßen sie beieinander, Bruder und Schwester, zeigten sich die Narben, die sie davongetragen hatten, und erzählten sich gegenseitig von dem Leid, das ihnen und ihren Freunden widerfahren war.
Anträge
A m nächsten Morgen war Dietrich bereits früh auf den Beinen. Er musste sich von der Kampfbereitschaft der Burgbesatzung überzeugen, Botschaften verfassen, den Treueeid verschiedener Männer entgegennehmen und mit den Anführern der benachbarten Siedlungen Vorsichtsmaßnahmen besprechen.
Nachdem die wichtigsten Angelegenheiten geregelt und Aufgaben verteilt waren, ließ er die Angehörigen der Gefallenen zu sich rufen. Er berichtete über den Tod jedes Einzelnen, sprach den Hinterbliebenen Trost zu und versicherte, dass er für sie sorgen werde, auch wenn ihre Familien nun den Ernährer verloren hatten.
Nachdem der Letzte hinaus war, bat er Clara zu sich.
Als Albrecht in Meißen Clara allein zu sich befohlen hatte, da hatte ihr Herz gehämmert vor abgrundtiefer Furcht. Jetzt, allein mit Dietrich, klopfte es vor Verlegenheit und Sorge, weil ihre größte, unerfüllbare Hoffnung nun auch noch zu Grabe getragen werden würde.
»Ich möchte Euch in aller Form mein Beileid zum Tod Eures Gemahls ausdrücken«, sagte Dietrich nach einigen Momenten beklommenen Schweigens.
»Danke, Hoheit«, erwiderte Clara mit gesenkten Lidern.
»Trauert Ihr immer noch um ihn?«
»Ja«, sagte sie, und da sie seinen Blick auf sich wusste, fuhr sie nach einigem Zögern leise fort: »Unsere Ehe war aus der Not heraus geboren. Als mein Stiefvater mir mitteilte, wen er für mich zum Gemahl bestimmt hatte, war ich entsetzt; ich verachtete Reinhard, weil ich ihn für einen Gefolgsmann Randolfs und Eures Bruders hielt. Doch dann erzählte mir Lukas von ihm und ihrem geheimen Plan. Reinhard hat mich stets geschützt und am Ende sein Leben geopfert.«
Dietrich beobachtete Clara und versuchte, sich über seine Gedanken klarzuwerden.
Vor seinem Aufbruch ins Heilige Land hatten sie sich ihre Liebe zueinander gestanden – und beide wussten sie damals schon, dass es keine Hoffnung für diese Liebe gab. Auch wenn er nur der zweitgeborene Sohn eines Markgrafen war, stand es ihm nicht frei zu
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