Der Trotzkopf
Sie blieben recht lange. Wo sie nur verweilten? Wenn sie gewußt hätte, daß sie mit dem Landrat und seiner Frau oben im Wohnzimmer waren, wo sie durchaus erst dem kleinen Bruder eine Visite abstatten wollten, wie würde sie zu ihnen geeilt sein.
Endlich vernahm sie Schritte. War das der Onkel? Es war nicht sein Schritt, auch würde er nicht durch die Hausflur und von außen herum auf die Veranda gekommen sein. Vorsichtig lugte sie durch das Blätterwerk und erkannte zu ihrem Schrecken – Leo.
Das Blut schoß ihr in die Wangen und der Atem stockte ihr in der Brust. Unmöglich konnte sie ihm jetzt gegenüberstehen! Sie würde nicht im stande gewesen sein, ein Wort hervorzubringen, und wenn sie so stumm und dumm vor ihm stand, was sollte er von ihr denken?
Flucht! das war das einzige, was sie aus dieser peinlichen Lage befreien konnte, aber es war zu spät, er hatte sie gesehen, und gerade, als sie ihren eiligen Rückzug nahm, als sie den Salon bereits halb durchschritten hatte, holte er sie ein.
»Jetzt müssen Sie bleiben, gnädiges Fräulein,« sprach er scherzend, »ich lasse Sie nicht fort! Sie haben mich auf ›später‹ vertröstet und jetzt ist es ›später‹, und Sie werden sich allergnädigst herablassen, mir Miß Nellies Brief vorzulesen! eine Frau – ein Wort!«
Nun war sie gefangen! Entfliehen konnte sie ihm nicht mehr, es wäre zu einfältig gewesen. Sie drückte die Hand fest auf das stürmisch klopfende Herz und wandte sich um. Scheu, wie eine wilde Taube, die sich im Netze gefangen hat, erhob sie das braune Auge und sah ihn an.
Ihre Befangenheit entging ihm nicht, aber mit feinem Gefühle brachte er sie mit leichtem Scherze darüber hinweg. Er bot ihr den Arm und führte sie zu einer Ecke der Veranda, in welcher ein kleiner eiserner Tisch und zwei Stühle standen. Die Oktobersonne stahl sich durch das blutrote Weinlaub und neckte das junge Mädchen. Gerade in die Augen blitzte sie ihm ihre Strahlen hinein, so daß sie dieselben schließen mußte.
»Die Sonne blendet,« bemerkte Ilse und war froh, ein gleichgültiges Wort gefunden zu haben. »Es ist auch so warm hier,« fuhr sie fort und erhob sich.
»Die böse Sonne! Wir wollen ihr aus dem Weg gehen!« Und er führte sie auf die entgegengesetzte Seite.
Hier war es schattig und kühl und Ilse hatte keinen Grund mehr, sich zu erheben. Sie war auch nach und nach mehr Herrin ihrer Beklommenheit geworden, und als er noch einmal an den Brief erinnerte, fand sie sogar den früheren scherzhaften Ton.
»Sie sind ein Quälgeist,« sagte sie. »Was kann es Sie interessieren, ›wie‹ – und ›was‹ Nellie mir schreibt! Sie wollen nur darüber spotten und das dürfen Sie nicht!«
»Wie können Sie mich in so bösem Verdacht haben!« wehrte er ab. »Sie haben mir Ihre Freundin so liebenswürdig geschildert, daß mein Wunsch, von ihr zu hören, wie sie mit eigenen Worte von ihrem Glücke schreibt, ganz natürlich ist.«
Ilse sah ihn noch etwas ungläubig an, doch, da sie den spottenden Zug um seinen Mund nicht entdeckte, glaubte sie ihm und zog den Brief aus der Tasche. Sie schlug ihn auf und las ihn für sich.
»Nun?« fragte er.
»Immer Geduld, Herr Assessor! Erst muß ich die Stellen aussuchen, die Sie hören dürfen! Der ganze Inhalt ist nicht für Ihre Ohren bestimmt!«
»Das wäre grausam!« protestierte er dagegen, »das ist gerade so, als ob Sie einem Kinde ein Stückchen Zucker hinhalten und sagen zu ihm: du, lecke mal dran! Den Zucker aber steckten Sie selbst in den Mund.«
Sie lachte lustig über seinen Vergleich, er brachte sie ganz in die alte, fröhliche Laune zurück. »Nun hören Sie zu, aber nicht spotten!« drohte sie ihm mit dem Finger.
Es war ein anmutiges Bild, das die jungen, schönen Menschenkinder boten. Dicht nebeneinander saßen sie beide, sie lesend und er aufmerksam ihren Worten lauschend. Er hatte den Arm auf den Tisch gestützt und sah auf Ilse herab, die den Kopf etwas vornübergebeugt hielt. Plötzlich hielt sie inne.
»Lesen Sie weiter, bitte! Warum hören Sie auf? Denken Sie an das Stück Zucker?« Sie schwieg, wie mit sich selbst überlegend.
Warum eigentlich wollte sie ihm das Schönste im ganzen Briefe verschweigen? Nellie hatte ihre Verlobung so drollig, so gemütvoll geschildert, ihre ganze Eigenart sprach sich darin aus.
Als er sie noch einmal so dringend bat, fortzufahren, that sie es. Erst etwas zögernd, dann aber las sie fließend, ohne nur einmal zu
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