Der Tschernobyl Virus
immer steht, gehen und Spaß haben könnten. Doch nach und nach nimmt sich die Natur zurück, was die Städtebauer ihr entrissen haben. Die Häuser zerfallen immer mehr, Pflanzen durchbrechen die Straßenbeläge und verwandeln die Stadt mehr und mehr zu einem Naturmuseum. In diese Stadt wird kein Leben mehr einkehren.
Da die Stadt mitten in dem 30 Kilometer Sperrgebiet um den Reaktor steht, darf sie nicht bewohnt werden. Doch man kann im Rahmen einer Tschernobylführung auch Prypjat besuchen. Allerdings darf man sich nur auf den Hauptstraßen bewegen, diese wurden dekontaminiert. Soldaten und Wissenschaftler leben am Rand der Sperrzone, dürfen aber maximal 2 Wochen ununterbrochen dort sein. Danach werden sie ausgewechselt. Sonst wäre das Gesundheitsrisiko zu hoch.
Ich habe mich auch gefragt, darf ich einen Unterhaltungsroman, einen Thriller über diese Katastrophe schreiben? Beleidige ich vielleicht die unzähligen Opfer dieses Supergaus nicht vielleicht? Nun, es ist eine zwiespältige Sache. Natürlich war es eine schreckliche Katastrophe und es wirkt auf den ersten Blick wirklich makaber und pietätlos. Doch meine Geschichte spielt im Heute, mehr als zwanzig Jahre nach dem Unfall. Ich befasse mich in dem Buch mit den Folgen der Katastrophe und mit den Folgen der Strahlung. Unsere Sicherheit und besonders die Sicherheit unserer Kinder sollte uns das Wichtigste sein. Und gerade deshalb denke ich, dass es wichtig ist, dieses Buch zu schreiben. Wir alle wissen doch gar nicht, welche Folgen die radioaktive Strahlung haben kann. Ich habe mir in diesem Buch Gedanken gemacht, habe recherchiert und möchte neben der Unterhaltung auch Informationen weitergeben. Wenn die Ärzte hier in dem Buch sich nachher über Atomenergie unterhalten, sind es Fakten die ich recherchiert habe. Natürlich habe ich die Fakten nur stark vereinfacht einfließen lassen, denn sonst hätte ich eine wissenschaftliche Abhandlung schreiben müssen, und das wollte und kann ich nicht.
So ist dieser Roman entstanden, im Gedenken aller bisherigen und zukünftigen Opfer von Tschernobyl.
Ihr Thorsten Hühne
26.04.1986 - 0 Uhr 23
Es war eine wolkenlose Aprilnacht im Jahr 1986, als Anastasia geboren wurde. Die grellen Lampen des Kreißsaals flackerten. Valentyna, die Mutter war erschöpft und stolz, auch erleichtert, dass es endlich vorbei war. Nach einer Weile brachte die Krankenschwester ihr das Baby. Valentyna konnte es berühren, anfassen, was so lange in ihr gewachsen war. Auch Olexij durfte das Töchterchen jetzt sehen, durch das Fenster im ersten Stock des Geburtshauses. Stundenlang hatte er vor dem Haus gewartet, wo er eine Zigarette nach der anderen geraucht hatte. Immer wieder hatte er kleine Steinchen gegen das Fenster geworfen, doch jedes Mal hatte die Hebamme nur mit den Schultern gezuckt und bedauernd den Kopf geschüttelt. Doch jetzt hielt sie das Baby hoch und Olexij konnte sein Baby sehen. Er war zum zweiten Mal Vater geworden.
Es war 0:23 Uhr. In einer Stunde würde sich seine Welt gründlich verändern. Doch das wusste er noch nicht. Schlafen würde er in dieser Nacht kaum können, zu aufgeregt und neugierig war er auf das neue Lebewesen, das er im Kreißsaal zurücklassen musste. Schweren Schrittes nahm er die Treppen im Hausflur seiner Plattenbauwohnung im sechsten Stock. Noch einmal schaute er ins Zimmer seiner erstgeborenen Tochter Irina, genauso wie er es getan hatte, als er einige Stunden zuvor die Wohnung verlassen hatte. Sie schlief friedlich. Er schloss die Fenster und versuchte, auf dem Sofa in der Wohnstube selbst ein wenig Schlaf zu finden.
Früh am Morgen blickte Olexij über die betonfarbenen Wohnblöcke, über die Straßenzüge mit ihren grün belaubten Bäumen. Er schaute vom Fenster hinunter auf die Straße vor dem Haus. Autos und Menschen waren unterwegs, als gäbe es nichts, was sie aufhalten könnte. Sein Blick fiel hinüber zum Rummel, dem Jahrmarkt. Dort stand das Riesenrad, dessen gelbe Kabinen weithin leuchteten. Noch ahnte er nichts davon, dass der Rummel dieses Jahr nicht öffnen würde.
In dichte Nebelschwaden gehüllt, konnte Olexij gerade noch Block 3 erkennen, dort wo sonst Block 4, sein Arbeitsplatz, stand, stiegen schwarze Rauchschwaden auf. Ob es brannte, konnte er nicht erkennen. Bald darauf kreisten die ersten Hubschrauber über dem Werk und luden eine Fracht ab, verstreuten irgendeine Masse über dem Reaktorblock. Dann klingelte es an der Tür.
»Guten Tag, Genosse«,
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