Der Tuerke - Das Original
dem Studium loslegen.«
Doch die ersten Wochen in einem fremden Land gestalten sich immer schwierig. Alles ist neu – die Sprache, die Menschen, die Regeln. Da sehnt man sich danach, sich mit einem Menschen in der Muttersprache zu unterhalten.
Auch nach vier Wochen Sprachkurs war Cüneyt immer noch sehr unsicher, wenn er sich auf Deutsch unterhalten musste. Sein Wortschatz war zwar mittlerweile größer, doch er sagte nach wie vor nur »Ja«, »Nein«, »Wie geht’s?« und »Wunderbar«.
Eines Nachmittags, als Cüneyt vom Sprachkurs nach Hause kam, traf er seinen Nachbarn, der vor zehn Jahren aus der ehemaligen UdSSR nach Deutschland gekommen war, bei seinem routinemäßigen Spaziergang um den Block. Der Rentner, der über der türkischen WGwohnte, freute sich, einen Gesprächspartner gefunden zu haben. Er sprach lange auf Cüneyt ein. Cüneyt verstand überhaupt nichts, schnappte nur Wortfetzen wie »spazieren« und »meine Frau« auf und versuchte, diese Fetzen zu kombinieren. Vergebens. Was der Nachbar mitteilen wollte, blieb ihm schleierhaft. Doch er nickte ständig, tat so, als ob er problemlos folgen könne, und meinte gelegentlich: »Ja! Super! Wunderbar!«
Das Gesicht des Nachbarn nahm ernste Züge an. Er sprach schneller und noch undeutlicher. Cüneyt verstand überhaupt nichts mehr, sagte »Tschüss!« und ging ins Haus.
Eine halbe Stunde später kam Ümit nach Hause.
Ümit:
»Cüneyt, sag mal, was war denn mit dem Russen, der über uns wohnt?«
Cüneyt:
»Was denn?«
Ümit:
»Er sagte mir vorhin, er hätte sich mit dir unterhalten und dir erzählt, dass er bis vor ein paar Wochen jeden Abend mit seiner Frau hier spazieren gegangen und wie glücklich diese Zeit gewesen sei. Seit sie tot ist, drehe er einsam seine Runden. Und was machst du? Du antwortest ihm mit ›Super‹ und ›Wunderbar‹.«
Cüneyt nahm sich dieses Missverständnis sehr zu Herzen. Er ging sofort nach oben und klopfte beim russischenNachbarn an. Dieser machte die Tür auf und sah Cüneyt an. Cüneyt sagte, so gut er konnte, immer wieder »Entschuldigung«. Der Nachbar verstand, dass Cüneyt sich über ihn nicht hatte lustig machen wollen, lächelte ihn an und sagte:
»Ich bin Oleg!«
»Ich bin Cüneyt!«
Oleg und Cüneyt wurden Freunde. Cüneyt begleitete von nun an seinen Nachbarn jeden Tag auf seinem Spaziergang und verbesserte innerhalb weniger Monate seine Deutschkenntnisse.
Peinliche Situation im Wartezimmer
Murat quält sich schon seit Tagen mit Schmerzen in der Schulter. Endlich hat er für den Nachmittag einen Termin beim Arzt bekommen. Sein bester Kumpel Ersin begleitet Murat in die Praxis. Türkische Männer unternehmen möglichst alles mit ihren besten Freunden. Besonders praktisch ist es, wenn auch die jeweiligen Frauen sich verstehen. Deshalb hat Ersin gleich am Anfang seiner neuen Beziehung seine Freundin Özlem gefragt, ob sie nicht eine gute Freundin mit Murat verkuppeln könne. Denn dann könnte man sich zu viert treffen und müsste nicht auf die Gesellschaft des Kumpels verzichten.
In der Praxis angekommen, begeben sich die beiden ins Wartezimmer. Sie setzen sich auf die letzten beiden freien Stühle. Unter den Wartenden fällt den beiden eine attraktive Mittfünfzigerin auf.
Sie fangen an, in türkischer Sprache zu schwärmen.
Murat:
»Siehst du die Frau? Für ihr Alter sieht sie immer noch sehr gut aus!«
Ersin:
»Stimmt! Die ist echt gepflegt. Stell dir vor, wie sie vor 30 Jahren ausgesehen haben muss!«
Murat:
»Oh ja! Die hat bestimmt für viel Wirbel gesorgt!«
Die Dame, die sichtlich Klasse besitzt, will den beiden und sich selbst weitere Peinlichkeiten ersparen.
In einer Sprache, auf die Ersin und Murat alles andere als gefasst sind – nämlich auf Türkisch –, stellt sie ihneneine Frage: »Kinder! Ich war noch nie bei diesem Arzt! Seid ihr hier schon mal gewesen? Ist er ein guter Arzt?«
Anders als unter Deutschen ist es im türkischen Leben normal, dass jeder jeden duzt. Nur ältere Menschen werden gesiezt. Ältere Menschen sind per se Respektspersonen und genießen einen Sonderstatus, auch wenn man sie gar nicht kennt. Das heißt, wenn ältere Personen in der Nähe sind, strengen sich türkische Jugendliche normalerweise an, sich so zu benehmen und zu unterhalten, dass die ältere Person denkt: »Das sind aber wohlerzogene junge Leute!«
Es ist also nicht schwer, nachzuvollziehen, was für ein Schock das für die beiden ist. Murat und Ersin gucken sich an. Sie sind entsetzt. Ihnen
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