Der Tuerke - Das Original
gegenüber sitzt eine türkische Frau, die vom Alter her ihre Mutter sein könnte, und sie sprechen über ihr tolles Aussehen.
Am liebsten würden die beiden im Erdboden versinken und in den nächsten Jahren nicht mehr auftauchen. Doch da das nicht geht, ergreifen sie die Flucht.
Rot angelaufen und zutiefst beschämt antwortet Ersin beim Rausgehen stotternd: »Nein, wir waren hier noch nie! Und müssen jetzt auch dringend weg!«
Wo sind wir denn hier?
Letztes Jahr war ich zum ersten Mal seit langer Zeit wieder in Berlin. Natürlich war ich beim Brandenburger Tor und am Checkpoint Charlie. Außerdem wollte ich schon lange mal durch die Straßen von Kreuzberg schlendern. Über Kreuzberg wird immer sehr viel geredet und geschrieben: »Kreuzberg ist fest in türkischer Hand.« »Die meistgesprochene Sprache an Kreuzberger Schulen ist Türkisch.« »Kreuzberg ist Klein-Istanbul.«
Stimmte dies alles oder wurde einfach nur übertrieben?
Mein Ausflug durch die Skalitzer Straße, den Kottbusser Damm und die benachbarten Straßen erstaunte mich sehr. Auf großen farbigen Werbeschildern prangten Aufschriften wie »Bolu Helal Et Pazari« (Koscherfleisch-Markt der Stadt Bolu), »Bizim Berber« (Unser Friseur), »Gaziantep Tatlicisi« (Süßwaren der Stadt Gaziantep), »Sürücü Kursu« (Fahrschule). Die Schaufenster vieler Restaurants warben mit »Aile salonumuz vardir« (Wir haben auch einen Familienraum; diese Räume sind meistens im ersten Obergeschoss und können in der Regel nur von Familien genutzt werden)– ohne Spur einer Erläuterung für die deutschen Passanten.
Ich habe mir für fünf Minuten vorgestellt, ich könnte kein Türkisch. Nicht-Türken mussten sich wohl ziemlich fremd fühlen – oder aber wie im Urlaub. Der Deutsche, der hier zum ersten Mal herkommt und nicht vorgewarnt ist, wird sich mit Sicherheit fragen, in welchem Land er sich befindet.
Ich stand gerade an einer Fußgängerampel. Sie war rot. An mir lief ein deutsches Paar vorbei und ignorierte die rote Ampel auf eine Weise, wie es nicht einmal in Istanbul praktiziert wird. Sie drehten sich zu mir um, die Frau rief: »Wir sind hier in Kreuzberg! Da bleibt man doch nicht bei Rot stehen!«
Sezen Aksu und Istanbul
Alle 14 Tage versuche ich es möglich zu machen, bei Halil Amca vorbeizuschauen. Amca bedeutet so viel wie Onkel. Man muss mit einer Person nicht verwandt sein, um sie Amca zu nennen. Bei einem gewissen Altersunterschied bekunden die Jüngeren ihren Respekt mit den Bezeichnungen »Amca« beziehungsweise »Teyze« (Tante). Bei einer geringeren Altersdifferenz bis zu circa zehn Jahren reicht es, »Abi« (großer Bruder) oder »Abla« (große Schwester) zu sagen.
Halil Amca ist Mitte sechzig und somit im amcafähigen Alter. Zusammen mit seiner Frau Halime führt er seit Jahren eine der zahlreichen türkischen Änderungsschneidereien nahe der Innenstadt.
Vor acht Jahren brachte ich Halil Amca eine Anzughose zum Kürzen. Statt der üblichen fünf Mark nahm er nur drei. Er begründete dies mit seiner Sympathie für junge Menschen. Seitdem besuche ich ihn regelmäßig, auch wenn es nur für eine Viertelstunde ist. Es ist einfach zu einem Ritual geworden.
Innerhalb der letzten acht Jahre hat sich nichts an dem Laden verändert. Eine alte Nähmaschine. Garne, Stofffetzen und ausgerissene Seiten aus Katalogen mit Mustern für Kleider und Anzüge liegen überall herum. An diversen Stangen hängen unzählige Kleidungsstücke und warten darauf, abgeholt zu werden. In einer Ecke steht der Kassettenrekorder, der bestimmt schon 20 Jahre aufdem Buckel hat, aber immer noch in Topform zu sein scheint.
Halil Amca hat mit seinen wenigen Kassetten nur ein beschränktes Repertoire an Liedern, die er spielt. Hauptsächlich hört er türkische Klassiker von Bülent Ersoy und Zeki Müren. Diese beiden sind in der türkischen Musikszene eine Liga für sich. Auch wenn ihre Anhänger fast ausschließlich 50 Jahre und älter sind, werden sie von allen respektiert. Sie genießen Kultstatus. Beide singen eher getragene Lieder und sind für ihre perfekte Aussprache bekannt. Als Zeki Müren vor einigen Jahren starb, trauerten viele Türken Wochen und Monate um diesen Meister der türkischen Sprache, der fernab von jedem Medienrummel allein in einer Villa in Izmir gelebt hatte.
Auch Halil Amca musste sich während dieser Tage die eine oder andere Träne aus den Augen wischen. »Zeki Müren war ein echter Künstler«, sagt er auch heute noch. »Mit ein oder zwei
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