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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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verschossene Stofftapete des Flurs mit den Pflanzen- und Salamandermotiven, den ovalen Spiegel, dessen Versilberung an einigen Stellen blind geworden war und eine bleiige Tönung angenommen hatte, den aus rohem Kiefernholz gefügten Kleiderschrank neben der Treppe, in dem er sichals Kind manchmal zwischen Kartons mit Ersatzglühbirnen und Arbeitskleidung vor Robert und Ezzo versteckt hatte, wenn sie »Räuber und Gendarm« gespielt hatten; über den Flurleuchter mit dem grünen Tukan aus Ton daran, der reglos an einem Bindfaden hing und mit seinen traurig wirkenden, aufgemalten Knopfaugen nach Peru sehen mochte. Von dort hatten ihn vor einigen Jahren Alice und Sandor mitgebracht, »Tante« Alice und »Onkel« Sandor, wie Christian und Robert sagten, obwohl die Bezeichnung nicht ganz zutraf: Sandor war der Cousin ihres Vaters, Richard Hoffmanns. Christian fiel ein, daß er die beiden nachher wiedersehen würde, sie waren zu Besuch gekommen aus Südamerika, wo sie lebten, in Quito, der Hauptstadt des Andenstaates Ecuador; er freute sich darauf; er mochte die beiden. Leise, wie um etwas nicht zu stören, was er nicht anders als den »Geist des Hauses« zu benennen wußte, jenen Dschinn mit tausend Augen, von denen niemals alle schliefen, setzte Christian die Pantoffeln vor sich auf den Boden, schlüpfte hinein und ging in die Stube.
    Soweit er mit wenigen Blicken erkennen konnte, hatte sich seit seinem letzten Besuch nichts verändert. Selbst der dicke, zimtfarbene Kater Chakamankabudibaba empfing ihn wie an dem Abend vor zwei Wochen: blinzelnd mit einem Auge, dann gähnend und sich unter Krallenzeigen reckend, als hätte ihn das plötzlich aufspringende Licht aus Mörderträumen gestört. Der Kater beschnüffelte Christians Hand, fand nichts Freßbares darin und wälzte sich träge auf die Seite, um sich kraulen zu lassen. Christian murmelte den vollen Namen des Tiers, wozu es keckernde Laute von sich gab. Der Name, den Meno einem der Hauffschen Märchen entnommen hatte, war nicht dazu angetan, den Kater in Abend- oder Morgenstunden lange und ausdauernd rufen zu können. Aber da der würdevolle Chakamankabudibaba ohnehin tat, was ihm beliebte, brauchte es auch keinen Namen, der kurz und prägnant war und sich in vielen Wiederholungen ohne Anstrengung rufen ließ: es war zwecklos – hatte Chakamankabudibaba Hunger oder wollte, wie jetzt im Winter, in der Wärme schlafen, so kam er, hatte er keinen Hunger, kam er nicht. Als Christian ihn auf den Rücken drehte, um seinen breiten Bauch zu kraulen, grunzte der Kater erschüttert,schnatterte unwillig, war aber viel zu schlaff, um etwas zu unternehmen. Die vier Pfoten blieben wie bei einer gebackenen Weihnachtsgans in der Luft stehen, der Kater reckte gnädig den Hals, schon wurden die Augen trübe, und er wäre wohl in dieser pharaonischen Haltung eingeschlafen, hätte Christian ihm nicht einen kleinen Stups versetzt, so daß er in die vorherige Stellung zurücksank.
    Vor der Spitzbogentür war der gelbe Vorhang zugezogen. Sie führte zu einem Balkon, der sommers über dem ausgedehnten Garten des Tausendaugenhauses zu träumen schien wie eine Frucht an einer hohen, mütterlich über das Blühen ringsum geneigten Pflanze; dann waren Türen und Fenster des Raums bis in die Nacht geöffnet, um Licht und Gartenströmungen einzulassen. Christian sah nach der Uhr: sechzehn Uhr sechsundvierzig, bald würde sie schlagen, fünf klangvolle Gongtöne würden durch Zimmer und Haus schweben. Die seltsame Konstruktion der Uhr hatte Christian schon als Kind gebannt, oft hatte er davorgestanden und sich von Meno den Mechanismus des Perpendikels und des Gangwerks erklären lassen: Alle zehn Minuten schlug die Uhr, war es zehn Minuten nach, dann einmal, zweimal bei zwanzig, dreimal bei dreißig und so fort; sechsmal für die volle Stunde, die nach einer Pause ihren Wert geschlagen bekam; war es Mitternacht oder zwölf Uhr, ertönten achtzehn Gongschläge. Was Christian aber am meisten beeindruckte, war die zweite Uhrenscheibe unter dem Ziffernblatt, ein fleckig nachgedunkelter Messingkreis, an dessen Rand der Zodiakus eingraviert war; ein breiter Rahmenzeiger, im Zentrum das Sonnenzeichen, wies die Sternenzeit. In die Kreisfläche waren Sternbilder eingepunzt, die Hauptsterne hatte der Graveur etwas größer als die übrigen markiert und durch Nadelrißlinien miteinander verbunden. Schlangenträger, Haar der Berenike, Nördliche Krone, Walfisch – Christian erinnerte sich an die

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