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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Stimmen zu hören. Vielleicht hatte Libussa, Langes aus Prag stammende Frau, Besuch; aber dann erkannte er die Stimmen Annemarie Brodhagens und Professor Dathes, des berühmten Ostberliner Zoodirektors – Libussa hatte den Fernseher eingeschaltet und sah »Zoobummel international«. Für einen Augenblick überkam Christian ein Gefühl von Neid, denn beim Gedanken an die Fernsehsendung mit dem klar akzentuierenden, populären Professor war ihm eingefallen, daß heute abend ja die letzte Folge von »Oh, diese Mieter« lief, der dänischen Serie, in der viele Schauspieler der »Olsenbande« auftraten, die er liebte und mit der er aufgewachsen war. Er runzelte die Stirn, als er dieTreppenlampe anschaltete – eine Bronzeblume mit Glühbirne darin, die Blütenblätter waren verbogen.
    Er mochte große Feiern nicht, wie die heute abend, zum fünfzigsten Geburtstag seines Vaters, aller Voraussicht nach eine sein würde, und war lieber allein als in großer Gesellschaft. Er war keineswegs menschenscheu. Die Abneigung gegen Gesellschaft hing mit seinem Äußeren zusammen. Wenn es etwas gab, wofür Christian sich schämte, so war es sein Gesicht, gerade das, wohin Menschen eben immer sahen, wenn sie einen ansahen. Sein eigentlich anziehendes und ausdrucksvolles Gesicht war von Pubertätspickeln übersät, und er empfand gräßliche Scham bei dem Gedanken an all die Augenpaare, die ihn forschend, vielleicht auch spöttisch oder angeekelt anstarren würden. Gerade vor diesem Ausdruck des Ekels fürchtete er sich, das kannte er zur Genüge. Jemand drehte sich um, sah ihn an, konnte seine Bestürzung oder sogar Abscheu nicht verbergen und zeigte die Empfindung für den Bruchteil einer Sekunde ganz nackt. Dann bekam er sich in die Gewalt, bedachte, daß es Christian wohl verletzen müsse, wenn er ihn so erschrocken angaffte, und griff sich schnell ein anderes, ein möglichst unbeteiligt wirkendes Gesicht aus dem Vorrat an Gesichtern heraus, den die meisten Menschen benutzten, wenn sie anderen Menschen begegneten, die sie nicht näher kannten. Aber gerade dieses unbeteiligt wirkende Gesicht war es, was Christian um so mehr verletzte, denn es war für ihn erst das Eingeständnis, seine, Christians, Entstellung bemerkt zu haben und sie nun durch Nichtbeachtung zu übergehen. Christian empfand das meist so stark, daß er innerlich vor Abscheu über sein unreines Gesicht brannte. Er versuchte sich beim langsamen Hinaufsteigen abzulenken, aber nun erfaßte ihn desto stärkere Unruhe, je näher er der Kajüte kam, wo sein dunkler Anzug und gewiß sein gutes englisches Hemd liegen würden. Alle die mehr oder minder unbeteiligten Fragen nach dem Gang der schulischen Angelegenheiten, seinem Berufswunsch, die unweigerlich folgenden, wohlmeinenden Ratschläge, vor allem aber der Auftritt, das Cellospiel: Obwohl er seinen Part gut beherrschte, überfiel ihn doch, beim bloßen Gedanken daran, im Rampenlicht zu stehen, wiederum Unruhe. Das Licht, das die Lampe gab, streute fahl über die ausgetretenenStufen hinab und erreichte kaum die untersten. Die unangenehmen Fragen und die Aufmerksamkeit waren das eine, überlegte er, während er über das Treppengeländer tastete, die ihm seit der Kindheit vertrauten Unregelmäßigkeiten und Maserungen. Das andere waren die Leckereien, auf die er sich nicht erst seit dem Internats-Frühstück heute morgen gefreut hatte – ewig das gleiche, stopfende Graubrot aus dem Waldbrunner Konsum, dazu Vierfrucht-Marmelade von »Elbperle«, Kunsthonig oder Blutwurst –, sondern bereits, seitdem feststand, daß die Feier in der »Felsenburg« stattfinden konnte, die nach der kleinen Gaststätte »Erholung« die beste Küche weit und breit führte. Es war nicht leicht, in der »Felsenburg« einen Platz zu bekommen, geschweige denn für eine größere Geburtstagsrunde eine Reservierung – wie so oft hatte es nur durch Beziehungen geklappt: der Koch war vor nicht allzulanger Zeit Patient von Christians Vater gewesen.
    Die Zehnminutenuhr schlug siebzehn Uhr zwanzig. Professor Dathes Stimme war nun zu Gebrummel herabgesunken, vielleicht hatte Libussa vorhin die Wohnzimmertür geöffnet, um ins Haus zu lauschen, wer gekommen sei, oder hatte etwas aus der Küche geholt. Seitdem in der Wohnung unter dem Dach wieder Mieter wohnten, war das »Alois?« oder »Herr Rohde?« nicht mehr zu hören, das sie sonst, wenn sie da war, unfehlbar nach unten gerufen hatte, und schloß man noch so leise auf. Christian, der in der

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