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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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des Ofens war nichts zu hören. Christian ging in die Küche und nahm aus dem Kohlenkasten unter dem Herd ein Paar Arbeitshandschuhe, prüfte dann, ob die Riegel der Feuer- und der Ascheklappe fest verschlossen waren, zog die Riegelschrauben etwas nach. Sogar durch den derben Handschuhstoff hindurch war die Hitze des Metalls zu spüren; die Kacheln in Höhe des Feuerlochs konnte er mit bloßen Händen nicht anfassen, ohne zurückzuzucken. Dennoch war es in der Stube nur mäßig warm – das Tausendaugenhaus war alt, die Fenster waren schlecht verfugt, das Holzhatte Risse; durch die Nachbarschaft des Korridors ging Wärme verloren.
    Den Schreibtisch hatte sein Vater geschreinert, als Hochzeitsgeschenk für Meno, mit aller Akribie und Freude am Detail, die er für handwerkliche Dinge aufbrachte. Noch immer schien Waldgeruch im Holz zu sein, obwohl der Tisch schon über sieben Jahre unter dem großen Stubenfenster stand und Pfeifenknaster-Arom angenommen hatte. Richard hatte den Schreibtisch über Eck gebaut; die Platte maß mehr als drei Meter in der Länge. Es war ihm gelungen, das Möbelstück genau den beengten Verhältnissen der Stube und dem Platz beim Fenster anzupassen – rechts davon führte die Spitzbogentür hinaus auf den Balkon, links stand ein massiver Lärchenholzschrank, der Meno von den früheren Mietern überlassen worden, weil schlicht unverrückbar war: er paßte nicht durch die Tür und hatte einst mit einem Kran durch das Fenster eingelassen werden müssen. Meno hatte sich zwei Arbeitsplätze auf dem Tisch eingerichtet: einen für Präparate, Sezierbesteck, Fachzeitschriften und Mikroskop; den anderen für Schreibmaschine und Manuskriptmappen. Christian schaltete die Lampe an, berührte aber nichts und achtete darauf, nicht zu nahe an den Tisch, Menos Heiligtum, heranzukommen. Er betrachtete die Fotos: die drei Geschwister Rohde in der Stube des Elternhauses in Bad Schandau; Meno beim Präparieren im Zoologischen Institut der Karl-Marx-Universität Leipzig; als Junge von elf oder zwölf Jahren, schon damals trug er das schwarze Haar gescheitelt, mit seinem Vater Kurt Rohde, dem Völkerkundler, in der Umgebung von Rathen beim Botanisieren; ein Foto auch von Hanna, Menos geschiedener Frau. Daneben Briefstapel, Zeitungsausschnitte, Manuskriptpapiere, bedeckt mit Menos feiner und fließender, gleichwohl nur schwer leserlicher Schrift – er schrieb viele Buchstaben noch in deutscher Kurrent, die schon lange nicht mehr gelehrt und allgemein verwendet wurde. Christian sah einige Bücher der Dresdner Edition, in der Meno arbeitete. Sie gehörte als Lektorat VII zum Berliner Hermes-Verlag und veröffentlichte Bücher, die ihresgleichen im Angebot der Buchhandlungen, die Christian kannte, nicht hatten: leinengebundene, auf bestes Papier handgedruckte Luxusausgaben von Werken wie der »GöttlichenKomödie«, »Faust« und anderer Klassiker, meist mit Grafiken versehen. Der größte Teil war für den Export ins »nichtsozialistische Wirtschaftsgebiet« bestimmt. Die wenigen verbleibenden Exemplare gingen meist an Bekannte und Freunde des Verlagsdirektors oder an Bibliophile in hohen Parteikreisen; noch nie hatte Christian diese Bücher frei verkäuflich in einer Dresdener Buchhandlung gesehen. Aber auch wenn dieser exotische Fall eingetreten wäre, so hätte es doch seine Mittel bei weitem überstiegen – die »Göttliche Komödie«, die Meno besaß, kostete das durchschnittliche Monatsgehalt eines Arztes.
    Eine ganze Weile stand Christian am Schreibtisch und betrachtete die Dinge, die darauf lagen und sich für ihn unwillkürlich mit dem Tausendaugenhaus und Meno verbanden, wenn er aus der Ferne, während einer der langen Busfahrten von und nach Waldbrunn, oder in der Schule, an ihn dachte.
    Er schaltete die Lampe wieder aus, stand noch ein paar Minuten lauschend im Halbdämmer und nahm dann Chakamankabudibaba, der wieder eingeschlafen war, mit in die Küche, legte ihn auf die Küchenbank – was dem Kater Verdruß bereitete, denn hier war es nicht so gemütlich wie nebenan in der Stube. Chakamankabudibaba machte einen Buckel und maunzte, sprang von der Bank herunter zu den Freßnäpfen. Die Milch im Schälchen neben dem Futternapf war vergoren, ein Fleischstück schwamm darin. Christian schüttete alles in die Toilette, wusch das Schälchen aus, füllte es neu auf. Dann holte er das Barometer und wickelte es in das Geschenkpapier ein.
    Als er nach oben ging, die Tasche geschultert, waren plötzlich

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