Der Turm
Bezauberung, die diese Worte und dann die lateinischen Übersetzungen in ihm bewirkt hatten, wenn Meno sie halblaut und beinahe wehmütig gesprochen hatte vor der Uhr, dabei auf die Gravuren weisend – das erste Mal an einem Abend vor etwa zehn Jahren, als sie ihm, dem siebenjährigen Christian, wie eine unbestimmbare, aber angenehm wirkende Substanz ins Ohrgeträufelt waren und ihm die Ahnung vermittelt hatten, daß es in der Erwachsenenwelt, die ja auch die Welt des unbegreiflichen und in so anderen Regionen lebenden Riesen neben ihm gewesen war, zu dem seine Mutter Bruderherz oder Mo sagte, – daß es in dieser Welt sehr interessante und besondere Dinge gab; Geheimnisse; und dort, in seinem Kindessinn, mußte etwas geschehen sein oder im Verborgenen gewachsen und nun auf einmal aufgebrochen: Christian hatte die Worte, ihren fremden, eigentümlichen Klang, nicht wieder vergessen. Ophiuchus. Coma Berenices. Corona Borealis. Cetus. Er sprach die Worte leise nach. Die Uhr schlug sechzehn Uhr fünfzig. Ich bin in ein paar Minuten vorn, dachte Christian, es ist noch genügend Zeit, die Feier beginnt ja erst um sechs, keine Hektik. – Aber daß es Lateinisch war, was Meno ihm da sagte, erfuhr er erst viel später, von Ulrich, glaubte er, oder von Niklas, an jenem Abend, an dem sie über Sagen sprachen, bei Tietzes.
Er ging zum Tisch neben dem vollgestopften Bücherregal, das sein Vater aus rohen Kiefernbrettern gezimmert hatte, musterte die stapelweise übereinanderliegenden Bücher und Zeitschriften. Selbst hier hatte es im Vergleich zu seinem letzten Besuch kaum Veränderungen gegeben: noch immer lag die mit einem Schutzumschlag aus Zeitungspapier versehene Nummer der »Nature« neben einigen Biologie-Fachzeitschriften, alle schon mit einer leichten Staubschicht bedeckt, und einigen Exemplaren der »Weimarer Beiträge«, die ziemlich zerlesen waren. Daneben die heutige Ausgabe der »Union« ordentlich zusammengefaltet, das maserige Papier roch nach Druckerschwärze. Neugierig berührte Christian ein in Leder gebundenes Buch, schlug es auf und las den Titel: »Die Weltalter«, F. W. J. Schelling; auf dem Buch daneben, das denselben Verfassernamen trug und ebenfalls in Leder gebunden war, »Bruno oder Über das göttliche und natürliche Prinzip der Dinge«. Christian nahm es zur Hand, es war ein Band im Quartformat, Staub wolkte vom marmorierten Buchblock, als er darüberblies. Der Rand war noch nicht sauber; Christian zog sein Taschentuch, versuchte die beiden Buchdeckel zu halten, aber die Blätter fächerten plötzlich auf, einige Papiere fielen heraus, beim Bücken rutschte ihm das Buch zu Boden. Chakamankabudibaba war wie elektrisiertemporgefahren und sah ihn mit grünen Augen an. Christian sammelte die verstreuten Blätter hastig auf, steckte sie in das Buch zurück. Da jetzt alles falsch liegen mochte, legte er den Band wieder auf den Tisch und versuchte sein Mißgeschick in Ordnung zu bringen, indem er das geschlossene Buch aufs Geratewohl öffnete: Oft schlugen sich so die vielbenutzten Seiten auf. Diesmal schien es nicht so zu sein: jungfräuliches Papier, neben den tiefschwarzen Zeilen keine Anstreichungen oder Randkommentare, mit denen Meno gewöhnlich arbeitete. Dennoch legte Christian eins der Papiere ein, wiederholte die Prozedur, wobei er mehrmals gerade die Seiten aufschlug, zwischen die er das erste Papier gesteckt hatte; aber schließlich waren alle Zettel untergebracht. Beklommen ordnete er die Bücher in ihre ursprüngliche Lage.
Der Kater hatte die Augen wieder geschlossen und den Kopf auf die Pfoten gelegt, nur die Schwanzspitze krümmte sich langsam hin und her, als gäbe es in dem sichtbaren, zimtfarbenen Chakamankabudibaba noch einen zweiten, der nicht schlief und den ängstlich lauschenden jungen Mann dort beim Tisch angespannt und aufmerksam beobachtete. Die zapfenförmige Lampe mit ihrem Stern aus sechs Glühbirnen schob eine Glocke diffuser Helligkeit über den Kater in seinem Sessel, den Schreibtisch. Die Bücher in den bis unter die Decke reichenden Schäften, die Pflanzen in der Ofenecke schienen Christian anzublicken, entfernt und dämmerig, als hätte sie ein Ruf so spät noch aus einem Anderreich heraufbeschworen, und als hätte der Rufer vergessen, das Wort zu sprechen, das ihnen die Rückkehr erlaubte. Auch die Uhr schien ihn anzusehen mit ihren beiden Zeitkreisen. Außer dem gleichmäßigen Ticktack, dem Rütteln der Fensterläden, wenn der Wind daruntergriff, und dem Ziehen
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