Der Turm
gingen die Schmuggler aus.
Christian war noch nie hiergewesen. Der betäubende Lärm, der wie eine Gummiwand auf ihn stürzte, der schreiende, lachende Menschenschlauch auf der Treppe, die von Qualm und Bierdunst wabernde Luft, die auf der Haut wie eine feuchtwarme Windel lag, die klaustrophobische Enge im Raum mit den hin- und herschwappenden Gästen, die ein schweres, dunkles Wasser zu bilden schienen, in dem ein paar Lampenbojen trieben; die auf ihn wie verzweifeltes Nichtschwimmergezappel wirkenden Bewegungen der Tanzenden auf der kleinen Fläche vor der Band: all das stieß ihn ab, und er war froh, als er einen Platz im Winkel der von Schevola reservierten Bank gefunden hatte. Neben ihnen saßen Soldaten in Ausgangsuniform und schielten sehnsüchtig, Schampusgläser zwischen den Händen rollend, zu den Mädchen. »Arme Schweine«, bedauerte Muriel nach einem Blick auf die Schulterklappen und forderte den Häßlichsten von ihnen auf, dem die Röte ins Gesicht wippte, die sich Sekundenteile später in den Gesichtern der anderen fortsetzte, als gäbe es eine Verbindung zwischen ihnen, Hoffnung auf ein gleiches Glück; aber Verena und Siegbert waren schon auf die Tanzfläche gegangen, Ina hatte Fabian mitgezogen, und Reina, nach einem Blick auf Christian, Falk; Heike schüttelte einfach den Kopf, als einer der Soldaten eine linkische Verbeugung versuchte, undSchevola stand an der Bar, flankiert von einem Mann mit Pferdeschwanz und Rauschebart und einer Frau in einem sariähnlichen Kleid.
Die Musik dröhnte aus den Verstärkerboxen; wenn der Schlagzeuger seine Stöcke wirbeln ließ, bereitete der Anprall des Schalls körperliche Schmerzen, Christian hätte sich am liebsten die Ohren zugehalten. Er fragte sich, ob es die anderen nicht so empfanden, nein, es wurde ausgelassen getanzt und gelacht, Befreiung lag auf den Gesichtern, und Lust. Libussa und Alois Lange gingen auf die Tanzfläche, der Bandleader lächelte, beugte sich über das Mikro, kündigte »Oma und Opa Lange« – rempelig unverschämt, fand Christian, und woher kannte sie der Typ – als »Twist-Legenden aus den leggen-däh-ren Zeiten des alten Paradiesvogels« an, dann fetzten die Rhythmen von »Let’s twist again« hoch, und inmitten von Jubel und gereckten Armen legten Libussa und Alois einen Twist hin, dem kein anderes Paar zu folgen vermochte; wir können nicht mehr tanzen, dachte Christian, und: Das darf doch wohl nicht wahr sein. So hatte er die beiden noch nie erlebt, und er glaubte sie doch gut zu kennen. Instinktiv wehrte er ab, was er sah, zwei weißhaarige Menschen, die auf einen Fingerschnipp und ein paar Takte einer mitreißenden Musik hin ihr Alter von sich warfen wie eine Zwangsjacke, die mit ihnen nichts zu tun und in die sie eine herrische Gewalt gesteckt hatte, die sie mißbrauchte – Christian beobachtete sie erschrocken und begann zu ahnen, daß man von anderen Menschen nur kannte, was sie zu erkennen gaben. Diese Beobachtung verletzte ihn, stimmte ihn eifersüchtig – das waren schließlich »seine« Leute, die Verena, Siegbert und den anderen etwas zeigten, das sie ihm noch nie gezeigt hatten; die sahen sie heute zum ersten Mal und gleich in einem Licht, von dem sie noch nicht einmal wußten, daß es neu war. Neu für ihn – plötzlich und gegen seinen Willen mußte er lachen: Du benimmst dich wie einer dieser Künstler, von denen Meno manchmal erzählt, sie glauben, die Menschen gehörten ihnen, und fühlen sich beleidigt, wenn die sich anders verhalten, als sie es in ihren Plänen vorgesehen hatten!
Christian trank sein Glas aus. Es war irgendein Cocktail für Jugendliche, vanillig schmeckend und aufgeregt über seineneigenen Alkoholgehalt; die Zunge klebte davon. Verena und Siegbert hampelten herum, sie warfen die Arme wie im Schüttelfrost. Albern! dachte Christian. Wozu soll das gut sein, so auszusehen? Verenas Fieberaugen; in Reinas Gesicht, das sonst so blaß war, kroch Hitze wie verschütteter Rotwein auf einem Tischtuch. Es faszinierte ihn. Es ekelte ihn. Das Gesöff schmeckte widerlich, aber was sollte er sonst tun, als es trinken. Heike beobachtete ihn, er nahm es aus den Augenwinkeln wahr, er konnte es nicht leiden, beobachtet zu werden, starrte sie flackernd an, aber sie ließ sich davon nicht stören, verglich ihn mit der Zeichnung, starrte zurück, unbewegt, sezierend. Er fand die Musik schrecklich, aber sie war nur laut, nicht schlecht, sie war gut. Das war das Blöde: Sie war gut. Kein Twist mehr; eine
Weitere Kostenlose Bücher