Der Turm
Siegbert zu. Muriel tanzte jetzt mit Falk, Verena mit Fabian, die Soldaten hüpften um Reina herum, die allein tanzte und die Augen geschlossen hielt. »Neustadt« sang von Pflastersteinen, vom Postinspektor Alfred, der durch die Vorstadtstra-ha-ßen mit Aktentasche und Stullenpaket zur Nachtschicht ging, vom Stückchen Himmel überm Hof, so blau wie Milkaschokolade – die Tanzfläche grölte –, sie sangen den »Aschesong«: »Nein, nicht, was ihr denkt«, rief André Pschorke den Soldaten zu, »es geht um … Asche liegt über der Stadt / Menschen haben sie im Haar / Asche, die Schlafs Farbe hat / das, was war, das, was war … // Sag, wo ist der Traum geblieben / den sie bei Sonnenaufgang hatten / haben sie ihn abgetrieben …«, die Zeilen beeindruckten Christian, er kritzelte sie auf einen Bierdeckel, auffällig, damit niemand ihn falsch einordnete. Sie sangen »Deine Augen«, eine langsame Sache mit viel Keyboard.
Schevola kam, hinter ihr die Frau im Sari. »Wir sehen, daß Sie fleißig zeichnen, darf ich mal sehen?« rief sie Heike zu. Sie blätterte den Zeichenblock auf, prüfte das Bild mit knappen Blicken, wie ein Handwerker den Inhalt eines Werkzeugkastens, blätterte weiter. »Du bist noch Schülerin?«
Heike reckte das Kinn und kräuselte eine Locke, die Frau im Sari nahm es wohl als Ja. »Was willst du mal machen, nach der Schule?« »Malen«, sagte Heike. Die Frau im Sari nickte. »Wenn du möchtest, besuch mich mal. Ich heiße Nina Schmücke, tagsüber verkaufe ich Fisch, freitags schauen wir uns abends unsere Bilder an und diskutieren darüber.«
»Sie hatten das rote Bild in der Kunstausstellung«, sagte Heike. »Einen Tag«, Nina Schmücke gab ihr den Block zurück. »Dann hat es jemandem, der was zu sagen hat, nicht mehr gefallen, und es wurde abgehängt.«
»Das hat Bärenkraft«, sagte Heike. »Darf ich wirklich zu Ihnen kommen?«
»Hast du was zu schreiben?«
Heike drehte den Block um, Nina Schmücke schrieb ihre Adresse darauf. Dann versanken die beiden in ihr eigenes Universum aus Malernamen und Bildern und Maltechniken.
Schevola setzte sich neben Christian. »Wollen wir uns unterhalten?« rief sie ihm amüsiert zu. Sie zeigte vage in Richtung Treppe. »Neustadt« schrubbte wutschnaubende Proteste.
»Worüber denn«, war alles, was Christian einfiel. Das hatte er in normaler Lautstärke gesagt, Schevola konnte es nicht verstanden haben.
»Sie tanzen wohl nicht?«
Er schüttelte den Kopf. Dann nahm er einen neuen Bierdeckel, schrieb: »Würden Sie den anderen sagen, daß ich schon gegangen bin? Es ist offen.«
Wie still es plötzlich war: Als hätte man einen Raum voller Lärm zugeklinkt, der hier nicht mehr galt, er zerstob und zerflatterte in den Gerüchen, die Christian wieder wahrnahm: vom Park her, wo ein großer Vogel abgestrichen war und ihn erschreckt hatte, vom Garten, vom Tausendaugenhaus. Fledermäuse huschten zwischen den Baumkronen, man sah sie als Schattenwinkel unter dem moorigen Himmel. Das Barometer zu Hause hatte »Schönwetter, konstant« gezeigt, und Libussa hatte gesagt, es würde keinen Regen geben. Chakamankabudibaba kam aus den Weinrosen neben dem Weg, berührte mit seinem Flaschenbürstenschwanz kurz Christians Wade, ein herablassender, registrierender Gruß, der Kater schleckte eine Vorderpfote, witterte in die Gartentiefen, verschwand so lautlos, wie er gekommen war. Teerwagens saßen auf dem Balkon, Schlagermusik dudelte aus offenen Fenstern, vielleicht war es »Da liegt Musike drin« mit Kammersänger Rainer Süß, eine beliebte Unterhaltungssendung des I. Programms. Halb zwölf: Nein, das lief nicht mehr umdiese Zeit. Es war ungewöhnlich warm, er überlegte, draußen zu schlafen, ihm fiel ein, daß er noch die Liegen aus dem Schuppen holen mußte, und die Luftmatratzen waren noch aufzupumpen, er beschloß, es gleich zu tun. Bei Kaminskis und Stahls war es dunkel, aber als er an die Brüstung trat, unter der der Garten steil abfiel, sah er die Stahls im Licht der farbigen Glühbirnenkette sitzen, die sie sommers über dem Eisentisch aufhängten. Er ging hinunter, der Ingenieur fragte, ob Sylvia ruhig gewesen sei; Christian hatte nichts gehört, Sabine Stahl sagte, sie schaue manchmal noch heimlich fern, wenn sie hier unten im Garten säßen, das Flimmern könne man von hier aus nicht sehen. Christian sagte, daß es mit dem Waschen morgen früh Probleme geben könnte, aber Stahl meinte, Jugend müsse was aushalten, er habe die Zinkwanne im Garten
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