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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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spät, und Christian, der vor den anderen ein wenig prahlen wollte und leichtsinnig geworden war, blickte erschrocken dem Geröll nach, das seitlich in die Klamm sprang. Sie gingen ohne feste Routen, folgten Meno, der schweigsam voranlief und die Touristenwege und Ausflugsziele mied: die Bastei, von der aus man ins weite Land sehen konnte, auf gescheckte Felder, die Ebenheit mit ihren großen Linien, in der, schroffrückig wie Urzeittiere, die Tafelberge auszuruhen schienen: Königstein, Lilienstein. Anfangs schafften sie nicht mehr als zehn, fünfzehn Kilometer am Tag, kamen erschöpft zu Hause an, ohne Sinn für Menos Erklärungen. Er war hier anders, nicht mehr der ruhige, pfeiferauchende Lektor aus dem Tausendaugenhaus, der an den Abenden mit Niklas und Richard Musik hörte, Vorträgen im Kreis der Urania lauschte, mit Josef Redlich oder Judith Schevola über Literatur fachsimpelte. Hier war er aufgewachsen, hier nahm er wieder den sehnigen und raschen Gang der Gebirgleran, die feine Witterung, die Christian bewunderte: dort die Spur eines Baummarders, die zu Menos Befremden für niemanden sonst zu erkennen war; hier die Reste eines Zapfens, ohne daß sie wußten, welches Tier ihn benagt hatte; sonderbare Laute an einer Schonung, vor der sie, überrieselt von Ameisen, quälend lange warteten: In der Dämmerung blockte ein Vogel auf, schwarz mit leuchtend rotem Scheitel, ein Schwarzspecht, den außer Meno noch niemand von ihnen gesehen hatte.
    Nach einer Woche wurde selbst die blaßhäutige Reina braun. Sie schafften es, mit Meno mitzuhalten, ohne daß sie abends halbtot auf die Luftmatratzen kippten. Lene kochte, die Mädchen kauften ein, die Jungs hackten Holz vor für den Winter. Mit Raubtierhunger stürzten sie sich auf die siebenbürgischen Speisen mit den fremd klingenden Namen. Abends ging Meno allein oder schrieb auf der »Fortuna« in seinem Zimmer; sie hielten sich dann nahe beim Haus auf, nur einmal gingen Reina und Christian in der Dämmerung noch in den Wald. Sie nahmen Pepi mit und Taschenlampen.
    »Wie du dein Haar zurückgestrichen hast, so affektiert«, sie ahmte es nach, zu seinem Ärger.
    »Ich mach’ das nicht aus Eitelkeit, sondern weil mich die Tolle stört. Ist mir unangenehm, wenn sie so in die Stirn fällt.«
    »Dann schneid sie doch ab.«
    »Damit ich aussehe wie ’n Stoppelkopf?«
    »Den hast du doch jetzt auch. Sieht nicht schlecht aus. Würd’s lassen, an deiner Stelle.«
    »Wieso?«
    »Verena gefällt’s auch besser.«
    »Woher weißt du das?«
    »Magst du ›Montechristo‹ wirklich nicht?«
    »Nicht besonders.«
    »Aber es klingt so ernst, wenn ich Christian sage. Und wenn es so ernst klingt, muß ich lachen, und das will ich eigentlich nicht. – Weißt du schon was aus Leipzig, ob sie dich zugelassen haben?«
    »Nein. Und bei dir?«
    »Ich weiß nicht, ob Chemikerin für mich das richtige ist«, sagte Reina nach einigem Zögern.
    »Aber du magst es doch sehr. Frank hält große Stücke auf dich. Du bist die beste in Chemie, mit Abstand. Hat mich geärgert.« »Tatsächlich? Na, das find’ ich ja spitze!« Reina lachte, kickte übermütig einen Zapfen weg. »Du, der du so ehrgeizig bist und immer gelernt hast … weißt du, was sie über dich gesagt haben?«
    »Nein. Aber du wirst’s mir bestimmt gleich verraten.«
    »Swetlana meint, du hast ’n Knall. Verena hat gedacht, dein Einigeln wäre so ’ne Art unreife Reaktion von dir, Kompensation von irgendwelchen familiären Traumen …«
    »Ich dachte, sie will Kunsthistorikerin werden, nicht Seelenklempner.«
    »Verena will heute dies und morgen das. This tender butterfly with dark brown eyes. Sie kann froh sein, daß du ihren Siegbert rausgehauen hast.«
    Christian ging nicht darauf ein. »Und du? Was hast du gedacht?« Er beobachtete Reina mißtrauisch.
    »Willst du das wirklich wissen?«
    »Darum frag’ ich ja.«
    »Ich dachte, du hast Angst vor Mädchen. Du müßtest dich mal sehen, wie du mit einem Mädchen sprichst. Immer halb abgewandt, immer in Verteidigungshaltung. Ich dachte … du bist schwul. Das war das erste. Dann hab ich gedacht: Soviel Disziplin möchte ich auch mal haben.«
    »Schwul, sagst du?«
    »Du hast mich nach meiner ehrlichen Meinung gefragt. Übrigens ist mein Bruder schwul. Sehr netter Kerl, ich glaube, ihr würdet euch gut verstehen.«
    »Sag mal, willst du mich verkuppeln?« Geruch nach trockenem Holz, Waldmeister, Meno hatte gesagt: Wenn die Hitze anhält, wird der Borkenkäfer zur Plage.

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