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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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Glühwürmchen geisterten über dem Weg. Pepi kam zurück.
    »Mir hat noch nie jemand eine Blume geschenkt.«
    »Auch nicht zum Geburtstag?« fragte Christian zweifelnd.
    »Wird nicht gefeiert bei uns. Mein Vater sagt: Was soll ich dir gratulieren? Du kannst doch nichts dafür, daß du geboren wurdest. Uns müßten wir gratulieren, wenn. Und wenn’s dir gefällt, daß du da bist, müßtest du eigentlich uns was schenken.«
    »Klingt logisch«, frozzelte er.
    »Dann hätte ich lieber unlogische Eltern. – Was machst du, wenn du dein Studium nicht kriegst?«
    »Geh’ ich ins Krankenhaus, arbeite als Hilfspfleger. Man kann sich jedes Jahr neu bewerben, irgendwann klappt’s.«
    »Christian … Wie war das genau im Lager? Erzählst du’s mir?« »Warum willst du’s wissen?« entgegnete er abweisend.
    »Es gibt zu viele Gerüchte drum, das stört mich.«
    Jetzt dachte sie womöglich: Christian der Held. Aber er empfand nichts, wenn er sich an das Wehrlager erinnerte. Er sah Siegbert und Unteroffizier Hantsch, das verzweifelte Gesicht seines Vaters; er hörte sich der Kommission antworten. Mechanische, gelogene Antworten. Angst, relegiert zu werden. Angst vor Schlimmerem: was wußte man. Barbara hatte schwarzgemalt, von Verhaftung und Gefängnis geredet. Studienplatzentzug: Nichts war entschieden und vorüber. Reina ging schweigend neben ihm, drehte gedankenverloren einen Zweig in den Händen. Er mußte an Fahner denken und an Falk, wie er die Treppe im Schulhaus hinuntergestiegen war.
    »Vielleicht später mal«, wich er aus. »Was willst du machen, anstatt Chemie?«
    »Weiß nicht. Vielleicht mach ich’s ja doch. Oder Medizin. Aber dafür müßte ich ’n besseren Durchschnitt haben. Vielleicht könnt’ ich noch was im Außenhandel machen, das würd’ mich auch interessieren. – Redet dein Vater viel mit dir über solche Sachen? Was du werden willst und was man dazu tun müßte?« »Dauernd. Er kontrolliert auch meine Hausaufgaben. Für meinen Bruder hat er einen Aufsatz neugeschrieben, weil er zu unvorsichtig formuliert hatte.«
    »Würde meinen Vater einen feuchten Kehricht kümmern. Was mein Bruder oder ich tun und lassen, ist meinen Eltern ziemlich egal.«
    »Du Ärmste. Du tust mir so leid!« Auf einmal hatte er das Bedürfnis, zu spotten; vielleicht war sie ihm zu nahe, die anderen mochten schon reden, würden vielsagende Blicke wechseln, wenn sie wiederkamen.
    »Na, und ich mir erst!« Reina lachte fröhlich, nahm plötzlich seine Hand, und er zog sie zu spät zurück.
    War es das nun? Das sollte die erste Liebe sein? Ein bebendes, alles umstürzendes Großgefühl, wie er bei Turgenjew gelesen hatte? Reina seine Julia, und er ein außer Rand und Band geratener Romeo? – Er war enttäuscht, wenn er in sich hineinhorchte. Das war es nicht, was er sich vorgestellt hatte. Reina hatte einfach seine Hand genommen, ohne ihn zu fragen. (Was hätte er geantwortet, wenn sie gefragt hätte? eine seiner Brüskheiten wahrscheinlich). Und nun sollte man, wie es hieß, miteinander gehen. (Was machte man da eigentlich, wenn man »miteinander ging«? Er konnte sich darunter nichts als Langeweile vorstellen). Reina sollte die Frau sein, mit der er ein Leben lang zusammensein, Kinder haben würde? Kinder: Aus dem puren Zufall, daß Reina und er in eine Klasse gingen, sie jetzt hier war und den Mut gefunden hatte, seine Hand zu nehmen. Und daraus etwas so Unabänderliches wie Kinder … Und wenn nun Verena seine Hand genommen hätte? (Hatte sie aber nicht, und deswegen würden ihre Kinder Siegberts einsam-seefahrerhafte Gestalt haben, die hellen Augen von Corto Maltese, und vielleicht auch eine Grausamkeit, vor der Verena beklommen zurückweichen würde). Und überhaupt: Wie war das mit der Liebe – hatte er sie nicht gefürchtet, hielt sie nicht vom Lernen ab, machte sie nicht aus Männern, die große Forscher hätten werden können, beschränkte, sofabäuchige Familienbären?
    Er erwähnte Reinas Geste nicht. Er beschloß, daß es sie nicht gegeben hatte. Reina erinnerte ihn nicht.

    Moose blieben kühl in den Gründen. Bärenklau tauchte auf, reckte seine bedrohlich bedornten Glockenetagen, Falk machte einen Bogen. Schlenkernde Rede, Flachsereien über Reina, die schweigsam geworden war und sich von Christian fernhielt. Siegbert trug zerfranstes Selbstgenähtes und glich mehr denn je, dachte Christian, einem an fremder Küste gestrandeten Seemann, für den ein Krieg, eine Heimatlosigkeit, eine Verbannung vorüber

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