Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
Vom Netzwerk:
worden. Er hatte das zweitbeste Zeugnis des Jahrgangs bekommen und es geschafft, Verena zu gratulieren.

    Lene Schmidken hatte ihn gesehen, als er den Koffer abstellte und am Haus hinaufsah: Die Gardinen waren zugezogen, die Luken im Schindeldach geschlossen; Pepi, Kurts Schäferhund, kam um die Ecke gesaust, blieb hechelnd vor ihm sitzen, sah ihn treuherzig an.
    »Kennst mich also noch, du Schlawiner. Na, wie geht’s.« Er kraulte Pepi hinter den Ohren. Der sprang in großen Sätzen Lene Schmidken entgegen, die auf einen Stock gestützt näherhumpelte und seit dem letzten Besuch um einen halben Kopf kleiner geworden zu sein schien. »Willst was essen, Jung? Oder erst den Koffer hochschaffen?« Sie kramte den Schlüssel aus der Tasche ihrer Schürze, wo er Wäscheklammern, Eukalyptusbonbons, Einweckgläsergummis angeschwiegen haben mochte. »Wie lange bleibst?«
    »Weiß noch nicht genau. Zwei, drei Wochen vielleicht. Kommt drauf an, wann Opa wiederkommt.«
    »Anfang September, hat er mir gesagt.« Sie griff in die Schürzentasche, bot ihm einen Bonbon, den er für alle Fälle einsteckte. »Wär’ schön, wenn du dich um die Karnickel kümmernkönntest. Und Pepi. Zum Mittagessen kommste rüber, Jung. Gibt Güwetsch. Un’ morgen Husarenmarsch. Ißte doch gerne.«
    »Hab’ kein’ Hunger, danke.«
    Lene Schmidken gab ihm den Arm, setzte sich auf eine Treppenstufe, schüttelte den Kopf über die Hitze und die Thrombosestrümpfe, die ihr der Arzt verschrieben habe. »Ischtenem, seh aus wie Sarmalutze. Und – haste dein’ Studienplatz?«
    »Wird uns erst im neuen Schuljahr mitgeteilt. Vielleicht kommen Freunde von mir. Muß Opa nicht unbedingt wissen, bitte.«
    Lene Schmidken nickte, erhob sich ächzend. »Kriegt er sowieso raus. Wenn du mal baden willst, hol’ ich den Zuber aus der Waschküche. Kurt hätte die Zisterne vollmachen sollen, Trunnenbutzer der. Halt mal den Prikulitsch weg.« Sie stukte Pepi mit dem Stock.
    »Hat Opa sonst noch was ausrichten lassen?«
    »Ne. Hat ja bloß noch seine Reisen im Kopp. Ganz nevrozich isser. Dies’ Jahr dacht’ ich, er kippt um, als sie ihm die Ablehnung geschickt haben. Hat sich ja mit allen bekätzt, Krispindel der. Paar Wochen später kam die Zusage.«
    »Davon hat er gar nichts gesagt.« Christian wandte sich wieder Lene zu, überrascht.
    »Hatte aber noch kein’ Paschaportes, Flebben, Reise-papuci, verstehst? Frißt alles in sich rein. Dann kam wieder ’ne Absage. Amazonas is’ nich, Donaudelta darfer. Und nu isser ehmd bei’n Lippengabors.«
    »Bei wem?«
    »Palukesfresser. Ramasuri. Bei ’n Zigeunern.«
    »Sind doch nicht alles welche, Lene.«
    »Ach, laß man, Jung.« Sie neigte den Kopf ein wenig schief und schlurfte ihrem Haus zu, wo sie seit Jahren allein lebte mit einem Siebenbürgen, das es nicht mehr gab.

    Er fürchtete sich vor den Totenmasken, den grellfarbigen, schroffgeschnittenen Gesichtern, dann drehte er den Fernseher an oder das Radio, suchte Orte, die sie nicht erreichten: die Kaninchenställe beim Kompost, das Plumpsklo hinten im Hof – dort hausten Fliegendämonen und Fotografien von Ostsee-Plattfischen,die niemandem etwas taten. Wenn die Dämmerung kam mit Wiesengeruch und blauen Schatten, schienen sich die Dinge im Haus gegen Kurts Reisen zu verschwören und zurückzukehren; Tonfiguren, Fladenwender, Vogelfederkronen wieder zu den Cayapa-Indianern nach Ecuador, Kupferkessel und Blasrohre mit Curare-Pfeilen wieder an den Amazonas, ins Gemurmel eines Stammes, der die Jagd vorbereitete. Christian hatte ein Biochemie-Lehrbuch mitgenommen, aber im Haus verlor es an Wirkung, sein Interesse erlosch mit den Stunden, die er die Stimmen aus den bunten Mündern hörte. Das Haus, der Sommer im Elbsandsteingebirge entfernten ihn von den Geschehnissen der letzten Monate; sie blieben am Ufer, und er trieb davon wie ein Boot. Kurt schien anwesend, wenn er auf den Dachboden stieg und in den Kisten kramte, die staubig und trocken zwischen fragilen Gleichgewichten aus Gerümpel standen. Er hörte Kurt die Filmrollen in den Regalen kommentieren: Regentanz der Crao-Indianer, 16-mm-Kamera. Geschichten von Faltbootfahrten in norwegischen Fjorden, lange vor dem Krieg. Jagdabenteuer im Eismeer. Christian sah Kurts knotige Hände vor sich, wie sie die Erzählungen sparsam untermalten im Rauch der Gartenfeuer und Sandblattstumpen, er sah Ina, die Fabian und ihn mit gewagten, in der »Harmonie« geschneiderten Sommerkleidern verwirrte, Muriel mit geschlossenen

Weitere Kostenlose Bücher