Der Turm
Falk unbeeindruckt. »Und denkst du, sie würden dich nicht verhaften, wenn du rübermachst auf deinem festen Rieselfeld?«
»Siggi, du denkst nicht mit. Es gäbe doch gar keine Grenzpatrouillen in dem Gestank. Das würde keiner aushalten.«
»Ich glaub’ dran.« Verena saß mit angezogenen Beinen, starrte auf den Boden. »Wir werden geboren und leben – aber wozu, wenn es keinen Gott gibt?«
»Gott reimt sich auf Kompott«, Siegbert verzog verächtlich den Mund. »Und meine Mutter sagt Ogottogott, wenn ich was angestellt hab. Ogottogott, hühundhott, laß mich in Ruhe mit dem Schmott.«
»Roter Adler würde sagen, daß Gott eine Erfindung der Imperialisten ist, um die Menschen zu verdummen. Wie heißt’s: Religion ist Opium für das Volk. – Was sagen Sie dazu, Herr Rohde?«
Meno, der schweigend der Diskussion zugehört hatte, warf einen Blick auf Reina, schüttelte den Kopf. »Ich geh’ noch ein bißchen raus. Ich nehme Pepi mit.«
»Religion ist Opium für das Volk«, zitierte Christian, als Meno gegangen war, »– woher wissen die das eigentlich?«
»Die haben lange über diese Dinge nachgedacht und waren schließlich bißchen klüger als du«, stichelte Reina.
»Vor Marx und Lenin haben andere Philosophen auch lange über diese Dinge nachgedacht, und vielleicht waren sie größer als Marx und Lenin«, erwiderte Christian gereizt.
»Komisch, daß du dich nie im Unterricht traust, so etwas zu sagen. Nur vor uns. Aber vor Roter Adler oder Schnürchel kneifst du.«
»Und du – kneifst du etwa nicht?«
»Warum unterstellst du, die würden uns Blödsinn beibringen?«
»Weil –«, Christian sprang auf und lief erregt hin und her. »Weil sie uns belügen! Nur Marx, Engels und Lenin haben recht, alle anderen sind Dummköpfe … Und ihre Parolen? Alle Menschen gleich? Dann müßten ja auch alle Philosophen gleich sein, und damit mindestens so schlau wie die drei«, schlußfolgerte er mit einem hämischen Lächeln.
»Klar sind die Menschen gleich«, röhrte Siegbert, »Männer haben alle ’nen Schnibbel, und Frauen haben alle ’ne Muschi.«
»Moment! Dann gibt’s aber noch Männinnen, Fränner und Zwitter«, gluckste Falk.
»Müßt ihr immer alles in den Dreck ziehen? Ihr seid wie kleine Kinder, könnt nichts ernst nehmen.« Christian sprach immer noch ruhig. »Du willst mein Freund sein, Siegbert, aber deine Ausdrucksweise ist … geschmacklos. Billig und ekelhaft. Wie kannst du so niedrig sein?«
Auch Siegbert stand jetzt auf. »Geschmacklos … ekelhaft … wie kannst du so niedrig sein«, höhnte er. »Du wirst dich noch wundern, Freund, wie’s zugeht draußen. Du bist mit ’nem Silberlöffel im Mund geboren. Hat aber nicht jeder dran gelutscht, my dear. Für jemanden, der Arzt werden will, bist du reichlich hochnäsig, ich glaube, das sollte dir mal jemand sagen.«
Stundenlang tappte Christian im Wald umher und dachte an den Anblick von Reinas Achselhöhle.
Reina schien ihn gesucht zu haben, denn sie kam ihm entgegen, als er sich über Umwege dem Haus näherte.
»Warum hast du mir widersprochen? Ist das wirklich deine Ansicht?« fragte er sie.
»Ja.«
»Und warum hast du damals Verena verteidigt? Du weißt doch, daß es gelogen war, daß sie die Regel hatte und so.«
»Christian: Nur weil einzelne sich nicht so verhalten, wie es richtig wäre, ist noch nicht die ganze Idee schlecht. Warum sollte ich sagen, daß Verena lügt? Schnürchel ist ’n Schleimscheißer, und wenn er dreimal Kommunist ist.«
»Du lebst gern in diesem Land?«
»Du nicht?«
Jetzt wurde es gefährlich, Christian musterte Reina mit einem wachen, mißtrauischen Blick, brummelte etwas, das sie für Zustimmung nehmen konnte.
»Dieses Land ermöglicht dir kostenlosen Schulbesuch und Studium, kostenloses Gesundheitswesen, ist das etwa nichts? Findest du nicht, daß wir etwas zurückgeben müssen?«
»Du klingst wie Fahner, Reina.«
»Nur weil es Fahner sagt, ist es noch nicht falsch.«
Christian blies durch die Nase. »Dein kostenloses Gesundheitswesen pfercht alte Leute in Feierabendheime, dein edler Staat gibt denen, die ihn aufgebaut haben, eine Rente, die zum Sterben zuviel ist und zum Leben zuwenig!«
»Woher weißt du das? Woher hast du diese Informationen?«
»Woher, woher!« platzte Christian heraus, wütend über Reinas Begriffsstutzigkeit, wütend über sich selbst, daß er sich so erregte, sich so sehr öffnete. »Zum Beispiel von meinen Großeltern. Und von meinem Vater.«
»Er hat seinen
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