Der Turm
Frauen trugen Kopftücher, die Männer flache Schiebermützen aus braunem Leder.
Von Pirna-Sonnenstein blinkten die Fenster der Neubauviertel herab, Klötze und Quader, die man über dem Markt-und-Kirchen-Städtchen in die Ausläufer des Elbsandsteingebirges gerammt hatte. Hinter Pirna frischte der Wind auf. Das Elbtal, bisher geräumig, wurde von steilen Hügeln links und rechts eingeengt. Aufgelassene Steinbrüche mischten ihr Sandgelb in das lichte Birken- und dunkle Kieferngrün der Elbwälder. Jetzt roch es nach Sommer: Trockenheit, Kuhdung, wilder Dill von den Wiesen, Diesel und Schmierfett von den Bootswerften, Sonnencreme, die sich mit Schweiß zu einem öligen Film vermengte. Christian strich über die narbige Reling, freute sich über die Kühle des Eisens. Er versuchte, nicht mehr an das Wehrlager zu denken. Er hatte die Bewerbung um einen Medizinstudienplatz nach Leipzig geschickt, es hatte an der Universität ein Gespräch gegeben. Einer der drei Prüfer, ein Praktischer Arzt, hatte in seinen Akten geblättert. Warum er Medizin studieren wolle? Christian war von dieser Frage nicht überrascht worden; draußen stand Richard, der für ihn mehrere Antworten vorbereitet hatte. Christian wollte für sich entscheiden. Weil ich mal ein berühmter Forscher sein will, hatte er gedacht, und für einen Momenthatte er große Lust, dies genauso zu sagen, so, wie es war, und nicht anders, die Wahrheit. »Weil ich mal in die medizinische Forschung möchte«, hatte er geantwortet.
»Ah, Sie wollen berühmt werden«, hatte der zweite Prüfer, ein Psychologe, mit ironischem Lächeln entgegnet.
»… Auch das. Ja.«
»Na, junger Mann, Sie sind wenigstens ehrlich«, hatte der dritte Prüfer, ein Professor für Innere Medizin, kommentiert. »Wissen Sie, was wir hier meistens zu hören kriegen? – Weil ich den Menschen helfen will. Manchmal sogar der Menschheit, das wird dann schon wieder interessant. Wenn Sie so etwas geantwortet hätten, und dazu noch Ihre Akte, wir hätten Sie abgelehnt. So werden wir uns für Sie einsetzen. – Wie geht es übrigens Ihrem Vater? Wir haben zusammen studiert. Na, jetzt raus mit Ihnen, und sagen Sie einer dieser Gänse Bescheid, die dem Menschen helfen wollen.«
Er schloß die Augen, hörte eine Weile dem Stampfen der Maschine zu. Er fröstelte, wenn der Dampfer in die Felsschatten geriet. In der harten Augustbläue bauschten sich Kumuluswolken. Sommerbläue, Angriffsbläue, erinnerte er sich; Großvater Kurts Worte.
Oberhalb von Wehlen stiegen die Felszinnen der Bastei aus dem Fluß; Reisegruppen drängten sich an der Backbordreling, wiesen nach oben, winkten. Christian winkte nicht, die Schroffen waren überhuscht von unzähligen Funken, er mußte die Augen zusammenkneifen und mit der Hand beschirmen. An Rathen vorbei beschrieb die Elbe eine weite Schleife, schnitt wie eine Stahlklinge zwischen Lilienstein und Königstein, waldbestandene Bergsockel, darüber Sandsteintafeln mit schründig abfallenden Wänden, in denen Myriaden von Mauerseglern nisteten. Er tastete nach seinem Koffer, hatte plötzlich das Bedürfnis, seine Handkraft an den Verschnürungsriemen zu erproben, spürte mit Befriedigung den knautschigen Widerstand des Leders, das er nicht über ein bestimmtes Maß hinaus zusammenzuquetschen vermochte, sosehr er sich auch anstrengte. Eine Libelle landete auf dem Holzlauf der Bugreling, kaum einen Meter von ihm entfernt. Das faszinierte ihn: Wie diese Tiere aus unsichtbarem Flug abstoppten und gleichsam eingeschaltet vorhanden waren: blaueNadeln mit einem Doppelpaar durchsichtig-filigraner Flügel, und Christian hätte die Libelle gern erwischt, um herauszufinden, ob sich die Hautlanzetten wie Zellophan anfühlten, ob man sich daran schneiden konnte. Sie schnellte weg, ansatzlos wie der Tick einer Sekunde.
Schandau kam in Sicht, die Brücke, der staubige Bahnhof, dessen Gleise und Elektroleitungen in der Hitze zu schwimmen schienen, eine Lok schmauchte unter dem Stellwerk, Bohlen lagen inmitten von Unkraut aufgebockt. Die Kurmeile mit Hotels, mit Regattawimpeln und Lampenketten am Ufer vor dem Parkplatz, dahinter, verdeckt von den Häusern am Markt, der Haubenturm von St. Johannis. Christian atmete aus. Niemand wartete auf ihn an der Dampferanlegestelle. Eine Blaskapelle begrüßte die Ankommenden, blinkte auf der Terrasse des Elbe-Hotels, zwischen weißblauen Sonnenschirmen und gelassen auf- und abtragenden Kellnern. Er wog den Koffer in der Hand. Er war nicht relegiert
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