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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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getan, an seiner Stelle? Warten, bis der Bürgerkrieg das ganze Land zerfetzt? Warten, bis die Faschisten Moskau erobern?«
    »Ich hätte darüber nachgedacht, ob das Gute, das auf den Fahnen geschrieben steht, das Böse wert ist, das es zu kosten beginnt! Er hat die alten Bolschewiken töten lassen, die Gefährten aus den Zeiten der Revolution! Ihm ging es nicht um das Land, um das Wohl der Menschen, ihm ging es allein um Macht.«
    »Seine Macht war das Wohl der Menschen«, entgegnete Eschschloraque ungerührt.
    »Er hat die Idee des Sozialismus mit Füßen getreten!« rief Philipp erregt. »Edu, bist du noch bei Trost? Bin ich in die Gesellschaft von Verrückten geraten?«
    »Ah, damit wären wir bei den Wiederholungen«, versetzte Albin, »das haben Sie uns schon beim letzten Mal gefragt.«
    »Die Idee des Sozialismus mit Füßen getreten … Pah, so sprechen Kinder, die nichts verstehn vom harten Zwang der Zeit,nicht wissen, daß die Spalte zwischen Wohl und Wehe die zerquetscht, die unentschieden zögern.«
    »Hört den Herrn Vater! Allein, so groß ist der Verderb der Zeit, daß wir zur Pfleg’ und Heilung unsers Rechts zu Werk nicht können gehen als mit der Hand des harten Unrechts und verwirrten Übels …«
    »Wie es schärfer nage als Schlangenzahn, ein undankbares Kind zu haben.«
    »Soll dankbar ich der Hand sein, die mich schlägt?«
    »Du haßt die Hand, die dich ernährt!«
    Albin drückte den Zigarillo aus, zündete einen neuen an, wobei er ein feingearbeitetes Lederetui reihum anbot, aber nur Judith Schevola hatte Lust zu probieren. »England war lang im Wahnsinn, schlug sich selbst: Der Bruder, blind, vergoß des Bruders Blut, der Vater würgte rasch den eignen Sohn; der Sohn, gedrungen, ward des Vaters Schlächter. – Ich habe einen Brief. Einen entzückenden, wahrhaft aufschlußreichen Brief, einen Durchschlag davon, um genau zu sein; ich trage ihn immer bei mir, obgleich es nicht nötig ist, denn ich kann ihn auswendig. Ein Dokument, man höre.« Albin lehnte sich zurück, blies Rauch aus und begann zu zitieren: »›Mein Sohn stammt von einer Musikerin und einem Schriftsteller, wird also, nach menschlich-genetischem Ermessen, ebenfalls ins künstlerische Genre streben, und also war es meine Pflicht als treusorgender Vater, ihm meine Liebe nicht nur zu zeigen, mit Worten zu behaupten, sondern zu beweisen – indem ich (eine ahnungslose Mehrheit wird wenig Verständnis äußern; wir aber haben Drachenmilch getrunken), – indem ich etwas unternahm, das ihm ein Leben neben meinem Schatten ermöglichen sollte: Ich habe ihn verstoßen, er wird Verletzungen erworben haben, aber das hat ihn, soweit ich erkenne, nicht umgebracht; Schmerz und Leid: das ist das glückliche Fundament des Künstlers; nun hat er etwas zu schreiben, er braucht sich nicht kümmerlich zu nähren, wie es wahrscheinlich gewesen wäre, hätte ich es ihm zu gut gemacht. Aber das ist das Wichtigste für den Künstler: sein Werk. Also mußte ich, als guter Vater, dafür sorgen, daß er ein Werk bekommt. Er hat Kraft, und er brauchte etwas, womit er diese Kraft füllen kann; ich habe es ihm gegeben, und daß das nicht wie Vaterliebe aussieht,ist Kleinbürgerperspektive und läßt auf fehlenden Sinn für Besonderheiten schließen, auch mangelnden Sinn für Gesetz und Schicksal, das ich, nicht ganz so romantisch-pathetisch, lieber Lebensform nenne. Seien Sie versichert, werter Freund, daß ich diese Konfessionen nicht gern entblöße, aber Sie nahmen jüngst eine Haltung ein, wie sie gewissen Helden, die mit dem Schwert fuchteln und meist ihre Namen zu erfahren wünschen (als ob das etwas änderte), in gewissen Melodramen einnehmen. Cela.‹« Eschschloraque wartete, niemand sagte etwas. Er breitete gelassen die Arme. »Und? Was bin ich? Ein pfeiferauchender Schakal?«
    »Du rauchst ja Zigarette. Nein, nein. Du hast recht.«
    »Du gibst mir recht?«
    »Warum nicht. Ich hätte ungern einen Sohn wie mich. Ich bin für die Todesstrafe, aber ich hasse den Stalinismus.«
    »Pfui Teufel«, murmelte Philipp. »Ihr seid verrückt.«
    »Das ist die Äußerung eines Menschen, der das Leben nicht kennt, und er kennt es nicht, weil er sich nicht kennt, und er kennt sich nicht, weil er sich nie kennenlernen mußte.« Es war nicht klar, wen Eschschloraque angesprochen hatte, seinen Sohn oder Philipp; beide blickten ins Leere.

38.
Einberufung
    … aber die Bahn fuhr an und ließ Simmchens Uhrmacherladen zurück, Matthes’ Papiergeschäft, die

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