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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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gestorben! sagt der eine. – Also hat er sich umgebracht? sagt der andere. Lieber Philipp –«
    »Edu –«
    Albin brach in quiekendes Gelächter aus. Eschschloraque schnitt es mit der Bemerkung ab, daß es eher albern als ehrlich erheitert klinge und daß auf diese Weise oft Leute lachten, die sich Leiden einbildeten. – Leiden! Albin lachte noch lauter. Danach schlug er vor, man solle endlich Philipp zuhören, denn was würde aus den Revolutionen ohne Positionspapiere. Philipp nahm es ohne Humor und begann, mit gesenktem Kopf und auf den Rücken verschränkten Händen, die er zu konzentrierten Fingerstichen unter bündiger Rede hob, die Ideen seines Arbeitsstabes auszubreiten. Es ging um Reformierung der Wirtschaftspolitik, ein Thema, das Judith Schevola sichtlich langweilte, denn sie begann Vogelstrom über die Schulter zu lugen, der jetzt Philipps Gesicht in verschiedenen Stadien zwischen Empörung und Entflammung skizzierte, bis Philipp traurig »es interessierteuch nicht, wie Barsano«, feststellte und resignierend die Arme senkte. »Wenn nicht einmal ihr mir zuhört, für die sozialistische Ideale noch etwas gelten –«
    »Für wen hier gelten denn sozialistische Ideale?« fragte Eschschloraque mit herrischem Kinnheben. »Rohde ist ein bloßer Opportunist, undurchsichtig und schweigsam, ein Maulwurf, vielleicht; Fräulein Schevola ist an Anekdoten und einprägsamen Episoden für ihren frechen Roman interessiert; Vogelstrom an seinen Kritzeleien; und dieser da«, er wies auf Albin, der sich grinsend in eine freie Ecke des Sofa gelümmelt hatte und wie ein Süchtiger an seinem Zigarillo sog, »ist kein Sozialist. Er ist ein Feind, ein Konterrevolutionär, schlimmer: ein Romantiker. Vielleicht ist er sogar ein Wagnerianer, das wäre das Allerschlimmste. Er wünscht uns den Untergang, Philipp, man müßte«
    »– jaja, ich weiß, was ›man‹ müßte. Denunzieren müßte ›man‹, das wolltest du doch sagen? Wie es in der Epoche, die du für golden hältst, gang und gäbe war. Ohne Bedenken hättest du mich ans Messer geliefert, der Vater den eigenen Sohn. Wie viele hast du denn verpfiffen?«
    »Welchen Ton erlaubst du dir, du Grünschnabel!« rief Philipp aufgebracht dazwischen. »Er ist immerhin dein Vater!«
    »Laß nur«, wehrte Eschschloraque ab, »ich brauche keine Antwort zu scheuen. Ich habe diejenigen angezeigt – um ein Wort zu verwenden, das ich für angemessener halte –, die gegen das System waren –«
    »Wirklich oder scheinbar? Oder hast du ›angezeigt‹, um deine Haut zu retten? – Übrigens«, wandte sich Albin an Philipp, »kann ich mich nicht erinnern, Ihnen das Du angeboten zu haben. Wir sind keine Lyriker oder Untergrundmusiker, wo das Du üblich ist. Ich für mein Teil bevorzuge die Distanz, also das Sie, denn es eröffnet unbekanntes Gebiet. Wer siezt, begreift die Lyrik oder Untergrundmusik als ein Land mit unüberschaubaren Terrains und nicht als Provinzfleck, wo jeder jeden kennt und im eigenen Saft schmort. Wer nicht sieht, daß derjenige, der siezt, auf der Würde seines Fachs besteht, weil er damit ausdrückt, daß es keineswegs ausgeschöpft ist, der beweist nur, daß er minderen Ranges, Denk-Ranges, Einfühlungs-Ranges ist.«
    »Kommt mir bekannt vor. Ist das Ironie?« sagte Philipp ironisch, nickte Meno zu.
    Eschschloraque maß seinen Sohn mit wohlwollenden Blicken. »Du kennst das Wort Unverschämtheit, du blickst durch das Glas der Verachtung, aber du ehrst nicht das Wort Untersuchung, und du liebst nicht das Wort Bessermachen, Söhnchen. Was weißt du von dieser Zeit … Ich brauchte nicht, wie du es formulierst, meine Haut zu retten. Ich war und bin bekennender Verfechter der von Stalin geschaffenen Ordnung, ich habe daraus nie ein Hehl gemacht. – Ein Hehl, denn es ist das Hehl«, sagte er zu Meno, »nicht einen Hehl, wie ich neulich in einer der Publikationen aus Ihrem Haus lesen mußte. Die Verderbnis der Zeit nimmt zu, denn es ist die Verderbnis der Sitten, und die Sitten verderben, wie das Gemüse, zuerst im Detail.«
    »So, Details. Schöner Spruch. Immer nur Worte, Herr Vater. Wie stehst du zu den Morden, um über ein solches, na ja, ›Detail‹ zu sprechen? Oder leugnest du sie? Die Tschistka? Gab es sie gar nicht? Alles Propaganda der Imperialisten?«
    »Nein. Die Morde waren notwendig, im großen ganzen. Bedrängte Zeit darf nicht bedrängte Mittel kennen. Die Sowjetunion war von allen Seiten eingekreist, was sollte der Schnurrbart tun? Was hättest du

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