Der Turm
lassen, mochte sich doch darum kümmern, wer wollte; davonlaufen, ja: Warum konnte er nicht einfach davonlaufen (weil sie dich kriegen), warum mußte er hier sein (weil du Medizin studieren willst), aber haben es nicht auch solche zum Studium geschafft, die nur anderthalb Jahre dienten (mag sein, aber es gibt dieses Gesetz, daß mit dem Studium nur beginnen darf, wer seinen Wehrdienst abgeleistet hat … was, wenn sie dich jahrelang nicht ziehen?); er wollte den Goldenen Reiter sehen, jetzt, und sich über das kreisrunde Loch an einer bestimmten Stelle von August des Starken Pferd wundern (wo wurde das Dings aufbewahrt? war es tatsächlich aus Gold?); er wollte über die Dimitroff-Brücke laufen zur Brühlschen Terrasse und erinnerte sich gerade jetzt, als die Türen der 11 zuschlugen und auch schon Gesänge aus dem anderen Wagen hörbar wurden, so daß einige Fahrgäste ihre Zeitungen sinken ließen und die Köpfe schüttelten, an den von seiner Mutterauf einen weißen Porzellanteller gelegten Apfel, der letzte Apfel aus einer, wie Anne sagte, unbezahlbaren Naturaliengabe, die Richard von einem Patienten als Dank für gute Behandlung bekommen hatte; ein Korb mit alten Apfelsorten, unbezahlbar, weil in Geschäften nicht zu kaufen; Sternrenette, Erdbeerapfel, Roter Hauptmann, Mohrenstettiner, (Meno sagte: Schornsteinfeger, Richard kannte ihn aus dem Glashütter Garten seines Vaters als Roter Eiser), an denen sich Robert Bauchschmerzen geholt hatte, weil sie noch nicht ganz reif gewesen waren; Gelber Bellefleur, Pommerscher Krummstiefel, Zitronenapfel; sie wuchsen noch am Elbhang, doch wurden sie von ihren Besitzern gehütet und waren für den Eigenbedarf bestimmt; Jungen, die sie zu stehlen versuchten, mußten mit bissigen Hunden rechnen, und selbst Lange gab nur selten von seinen Obstschätzen ab (Meno bekam welche im Tausch gegen Bücher); Duft, Blätterknirschen, wenn die Herbstniesel kamen, Lackgrün, kräftige harlekinhaft gestreifte Früchte an den Zweigen, Christian erinnerte sich an das klare, beinahe unverschämte Rot des Apfels auf dem Teller, ein schiefes seichtes Schattenoval leckte wie eine Zunge über das Porzellan im Angoralicht eines Novembermorgens, das harte, glasiert wirkende Rot, neben der Wohnzimmertür stand ein Krug, von dessen Rand ein solches Rot in dekorativen Zapfen blutete; er hatte als Kind manchmal sein Ohr an den Krug gehalten, um die Stimmen gefangener Faune zu hören; eben jetzt ging er aus der Küche in den Flur und lauschte, trat auf eine knarrende Stelle im Parkett, weil es still war im Haus, kein Stenzelschwestern-Grammophon entwarf Gesten aus Wäschestärke und Melancholie, weder Rasenmäherlärm noch Pudelwehmut schlürften an den Fensterscheiben, auch Plisch und Plum schaufelten nicht, kein Ofengestocher sondierte die Stille; er überlegte, ein Stück aus dem Apfel herauszuschneiden und auf den Toaster zu legen – oder im Löffel an die Herdgasflamme zu halten, wie Robert es manchmal mit Kunsthonig machte, den er aus einem Pappeimerchen schälte (der Honig schmeckte nach gezuckertem Wachs), aber er legte den Apfel auf den Teller zurück und beschloß, noch einmal durchs Haus zu gehen, bevor er den Apfel essen würde; er hatte noch Zeit
… während die Bahn die Kreuzung Otto-Buchwitz-/BautznerStraße nahm und sich dem Neustädter Bahnhof näherte, ging er durch die Karavelle und dachte an den Apfel auf dem Teller, der rot wie eine Billardkugel war und genauso kühl sein würde, auch zu vornehm, seine Aromen auf Verlangen und restlos in den gierigen Mund zu kippen, das Fruchtfleisch würde knacken beim Zubeißen, vielleicht würde ein Blutsaum an der Zahnspur stehenbleiben; der Apfel würde nach Stolz, nach Herbst schmecken, genauer: nach der schaumigen Eintracht zwischen Zenit und absteigender Ruhe, in der jene raphe verlaufen war – den Begriff hatte er im Leipziger Anatomieatlas gefunden, den die Medizinstudenten, so war ihnen in einem Schreiben aus dem Studiendekanat empfohlen worden, schon vor der Einberufung beziehungsweise dem Praxisjahr kaufen sollten, Richard hatte ihm das opulente, dreibändige, orangefarben eingebundene Werk aus Doublettenbeständen einer verschlafenen Akademiebibliothek besorgt –; jene raphe (Christian mochte es gern, dieses Wort): die nur für Augenblicke zu Messerklingenschärfe emporlaufende Wucht, mit der September- und Oktoberbrandung aufeinanderprallten, dieser Zeitpunkt (aber es war ja keiner, Stabenow hatte von Punkt-Verwischung
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