Der Turm
die Welt ab, wenn nicht gar Dresden: all das sprach von Gier, mit der Süchtige nach dem Gegenstand ihrer Sucht lechzen, eine verblüffte, vielleicht sogar über sich selbst erschrockene Gier; wie der Schaukelstuhl noch geraume Zeit vor- und zurückpendelte, bis es Irmtraud oder Hanna zuviel wurde: die bühnenhaft aus dem Halbdämmer des Zimmers auftauchende Hand, die den Schaukelstuhl stoppte, so daß sich die Stille vertiefte und etwas Beklemmendes erhielt, Irmtrauds banger Blick, den sie zu kaschieren versuchte, Philipps herausforderndes Räuspern und genüßliches »Ach, übrigens, Meno, kennst du den?«-Witzeerzählen justament dann, wenn die Stille am tiefsten und, so empfand ich, am verletzlichsten war, als wäre sie eine weiße Fläche, auf der, schwarz, ein Urteil erscheinen würde – Irmtraud wagte nicht einmal, die Studienjahres-Broschüren der Partei weiterzulesen oder eine von Philipps Veröffentlichungen; sie rührte nichts an währenddes Telefonats, als wäre der Sherry eine Belohnung, die ihr womöglich nicht zustand, woran sie das Klingeln des Apparats und, davon losgelöst, komplizierte psychologische Prägungen gemahnt hatten, die sonst, im Alltag, in Vergessenheit geraten waren wie schlechte Träume, die man beim Erwachen, froh und beruhigt angesichts des beginnenden Tages, abschüttelt, bis man einen Gegenstand aus dem Traum auf der Kommode im Flur entdeckt –; wie Jochen Londoner dann wiederkehrte, das Gesicht undurchsichtig, der Blick gleichgültig, wie er in die Küche ging, um sich ein Glas Wasser einzuschenken, das er in Schlucken trank, die mit Kosten, Abschmecken, umsichtiger Beobachtung langsam an der Wasserhahntülle nachreifender Tropfen verbrämt waren, wie er zurück ins Wohnzimmer kam, ohne sich um die Stille, um Irmtraud, die das Sherryglas abgestellt hatte, um Hanna oder Philipp zu kümmern, die das Spiel – aber war es eines? – mitspielten, was mich immer aufs neue verwunderte; Hanna starrte auf den Tisch, Philipp hatte das Kinn gereckt und die Witze – herrliche jüdische Witze, die mich trotz Irmtrauds vorwurfsvollem Blick in der Zeit der Stille zum Lachen brachten, was Irmtraud wahrscheinlich als Ohrfeige empfand; aber diese Witze, besonders die mit Rabbinern, besaßen köstliche Pointen –: diese Witze hatte Philipp entschieden, wie unwillig über sich selbst, beiseite gewischt, wenn sein Vater ins Zimmer zurückkam; und wie Londoner dann an den Tisch trat, sich nicht in den Schaukelstuhl, sondern neben seinen Sohn auf die Couch setzte, bedächtig, die breiten Hände auf den Knien, die Beine einknicken ließ: das konnte man, glaubte ich in kühleren Minuten, durchaus als eitel bezeichnen, auch alle nun folgenden Räusperer und Gesichtsmuskelspiele wiesen darauf hin, daß das eben geführte Gespräch am »oberen Telefon« von ungeheurer Wichtigkeit gewesen war –
Im Gegensatz zu Londoner und seiner Frau nannte der Alte vom Berge am Telefon seinen Namen. Irmtraud Londoner, wenn sie das untere Telefon abnahm, sagte »am Apparat«, nichts weiter zur Begrüßung, und Meno fragte sich, woher sie wissen konnte, daß der Gesprächspartner wußte, daß sie es war, die da »am Apparat« sagte; Jochen Londoner, nahm er das obere Telefon ab, sagte nichts, wie Meno von Hanna wußte, nahm einfach nur abund schwieg in den Hörer. Meno hatte nie herausfinden können, was der Grund für dieses Verhalten war, sowohl Jochen und Irmtraud als auch Hanna und Philipp waren seiner Frage ausgewichen. Keine Namen am Telefon, keine Zettel mit Adressen. Schon gar nicht: Zettel mit Adressen im Haus liegenlassen; Briefe gehen offiziell über das Institut, das Sekretariat, die Akademie und werden auf dem verbreitetsten Schreibmaschinentyp verfaßt, Handgeschriebenes existiert so gut wie nicht und wird als Zeichen hohen Vertrauens behandelt, dachte Meno; die einzige handschriftliche Notiz, die ich je von ihm bekam, war, als er mich zu Weihnachten lud: Du gehörst doch zur Familie. Hanna ist in Prag, Philipp wird dasein, und wir haben Altberg geladen, der allein zu sein scheint. Er hat uns eine Überraschung versprochen.
»Sie wollen mich tatsächlich zu sich zum Weihnachtsfest bitten? Herr Londoner, ich wußte gar nicht … Oh, dann bin ich Ihnen etwas schuldig«, sagte Altberg, und Meno war irritiert, daß er Londoner plötzlich siezte, bis ihm klarwurde, daß Altberg offensichtlich mit Philipp sprach, »– aber hat Ihr Vater denn … aha. Jedoch, verstehen Sie bitte … ist er zu sprechen? Hm.
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