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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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in den Flur und öffnete leise den Kleiderschrank vor Roberts Tür, wo er, ohne Anne etwas davon zu sagen, eine seiner Arzttaschen versteckt hatte. Sie war mit allem gefüllt, was er für notwendig hielt, und wenn sie kamen, würde er bereit sein. Manchmal glaubte er es nicht mehr aushalten zu können, wäre am liebsten auf die Straße gerannt, um den Aufpasser zu stellen und ihm zu sagen, er solle sich zum Teufel scheren. Aber er wußte nicht, ob er sich diesen Aufpasser einbildete, die aufglimmende Zigarette konnte eine Täuschung sein, die Sicht war durch Hecken und Bäume eingeschränkt. Und selbst wenn er sich nicht getäuscht hatte: Vielleicht rauchte dort jemand, der von ihm gar nichts wissen wollte. Vielleicht hatten sie ihn sogar aufgegeben, stillschweigend und ohne ihn davon zu informieren … Josta hatte sich von ihm getrennt, die Erpressung zog nicht mehr. Und inzwischen glaubte er, daß Anne alles wußte, zumindest ahnte: ein anonymer Brief, zugestellt, wenn sie zu Hause und er in der Klinik war, würde wie naßgewordenes Pulver nicht mehr zünden. Aber wer weiß: Er mußte mit Glodde sprechen, dem schieläugigen Briefträger.
    Er wartete, fixierte die Standuhr, die Zeiger mit den herzförmigen Spitzen, das gewölbte Glas über dem Ziffernblatt. Der obere Haken an der Perpendikeltür, die man zum Aufziehen der drei Bleizapfen öffnen mußte, durfte nicht geschlossen werden. Es sei Druck auf dem Glas, es könne springen, wenn man den Haken schließe und Temperaturschwankungen im Raum die Elastizität des Glases veränderten, hatte sein Vater gesagt. Richard trat vor die Uhr. Das Glas übte einen Sog auf ihn, aber es würde zerspringen, sobald er den Finger ausstreckte, davon war er überzeugt.

    Weihnachten verging in gedrückter Stimmung. Anne weinte, weil Christian nicht da war, bei eisigem Wind auf dem Wachtturm hocken oder mit schrecklichen Menschen in Feldlager fahren mußte. »Wenn dem Jungen was passiert … Er hat doch von diesen technischen Dingen gar keine Ahnung. Diese fürchterlichen Panzer, ich kann mir Christian gar nicht darin vorstellen, und dann trainiert er, auf andere Menschen zu schießen …«
    Arthur Hoffmann lag nach einem unglücklichen Sturz (sonntags zog er alle Uhren seiner Sammlung auf, zu den Kuckucksuhren mußte er auf eine Leiter steigen) mit gebrochenem Knöchel im Glashütter Krankenhaus. Er wollte nicht von Richard operiert werden: »Bei deinem Vater zittert dir die Hand, und wer weiß, vielleicht willst du dich an mir, wenn ich wehrlos bin, auch für dies und jenes rächen!« kommentierte er mit grimmigem Humor. »Außerdem will ich keine Sonderbehandlung. Hab’ ich nie gebraucht! Lehne ich ab!« Im Glashütter Kreiskrankenhaus war die Versorgungslage, da es sich tief in der Peripherie befand, spürbar schlechter als in den Kliniken der Bezirkshauptstadt. Richard sprach mit dem Leitenden Chirurgen und erreichte, indem er den Akademie-Apotheker mit einigen von Meno gestifteten »Hermes«-Büchern bestach, daß wenigstens einige wichtige Medikamente aus den Depots der Akademie in die der Station, auf der Arthur Hoffmann lag, wanderten.
    Emmy malte den ganzen Heiligabend über schwarz, ließ sich weder von den Sphärenklängen des Kreuzchors unter Mauersberger noch durch einen Einkaufsrolli mit Schottenmuster-Stoffbespannung davon abbringen, daß alles bald in die Luft fliegen werde und ihre Nachbarin eine Hexe und neidischeHenne sei, die sich gegen sie verschworen habe und ihr nach dem Leben trachte. »Wirklich, so wahr ich hier sitze! Nachm läbändschen Lähm trachtet se mir, die Gewiddermuhme!« Außerdem finde die Nachbarin »alleweil« Geld, was ihr, Emmy, noch nie gelungen sei. Aber die Nachbarin habe auch den ganzen Tag ihre Nase auf dem Trottoir, ihre Ohren an der Wand, ihre Finger in fremder Leute Briefkästen und an fremder Leute Obst, auch wenn es nicht über den Zaun ihres Gartengrundstücks hänge. Als Robert, von Richard leidenschaftlich gebeten, eine Folge von heiteren Klarinettenpiècen spielte, winkte sie ab und bemerkte grämlich, der Junge werde es nie und nimmer zu etwas bringen, er sei nun einmal ein Hoffmann, und die Hoffmanns blieben immer stecken. Und außerdem habe Arthur sie verlassen.
    Schnee fiel in weichen, großen Flocken, hing wie Grießbrei in den Bäumen, bedeckte die ascheverschmierten Straßen. Die Schwestern Stenzel holten ihre Stahlkantenskier vom Dachboden, die Tropfenspitzen und Federbindungen hatten und Innsbruck gesehen, das

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