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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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brachte neue Verletzte. Sie brachten auch Nachrichten, wie es in der Stadt aussah. Nach diesen Informationen, die sich, aufgenommen und weitergetragen von den ein- und auseilenden Schwestern, von Ärzten,Krankenwagenträgern, wartenden Patienten sofort verbreiteten, mußten dort chaotische Zustände herrschen. Straßenbahnen steckten am Platz der Einheit fest, auch dort war der Strom ausgefallen, Fahrgäste hatten die Türen aufgehebelt – die Neustädter hatten es nicht weit und konnten zu Fuß nach Hause stapfen, wer über die Marienbrücke ins Stadtzentrum wollte, versuchte eines der voranschleichenden Autos zu stoppen und sich mitnehmen zu lassen; besonders schlecht dran waren die, die hinauf zum Villenviertel wollten: ohne Mitfahrgelegenheit stand ihnen ein kilometerlanger Fußmarsch bevor. Die Elbe hatte sich mit Eis bedeckt, ein tschechischer Schlepper war gegen das Blaue Wunder gedrückt worden, die Brücke hatte gesperrt werden müssen. Keine der Fähren zwischen links- und rechtselbischem Ufer fuhr mehr. Wenn Richard vor die Ambulanz ging, um Luft zu schnappen, sah er die Akademie wie einen dunklen Bienenbau: die Dächer wächsern von Eis, auf den Wegen lag knietiefer Schnee. In vielen Zehngeschossern der Johannstadt, in den Neubaugebieten von Prohlis und Gorbitz waren die Zentralheizungen ausgefallen, dort lagen die Menschen schlotternd in ihren Betten und beneideten die Elbhangbewohner mit ihren rußenden, kohlehungrigen, asche-, aber eben auch wärmeproduzierenden Kachelöfen.
    In der Ambulanz schien niemand mehr die Übersicht zu haben, wer schon behandelt worden war, wer noch behandelt werden mußte, wer auf eine Station verlegt werden konnte und wo welcher Kollege gerade an welchem Fall zugange war. Wolfgang hielt die Stellung in der Kanzel, links und rechts Papiere, auf die er provisorisch ankommende und abgehende Patienten zu erfassen versuchte, Telefone klingelten, ständig wollte jemand etwas wissen: Patienten, wann sie an die Reihe kämen, Angehörige, wo ihre Verwandten abgeblieben seien, Personal, wo es Nachschub an Spritzen, Verbänden, Aufnahmebögen gebe – und ob nicht endlich mal jemand einen vernünftigen Kaffee kochen könne, inzwischen laufe doch das Notstromaggregat wieder!
    »Ja, auf der ITS und am Transportfahrstuhl zum OP, du Schlaumeier!«
    »Selber Schlaumeier! Sollen sie eben oben Kaffee kochen und uns welchen runterschicken!«
    »Und wann geht hier endlich das Licht an? Oh, Schwester, schon wieder danebengegriffen! Aber man sieht ja kolossal wenig!«
    »Entschuldigen Sie, wenn ich das jetzt so frank und frei sage, aber Sie sind ein Ferkel.«
    »Schwester, Sie verkennen mich völlig. Das muß an dieser ägyptischen Finsternis liegen. Ferkel haben doch nur ein Schwänzchen.«
    »Wo ist der Hoden?« grunzte Frau Dr. Roppe, Urologin, quer durch die Ambulanz und stemmte die Hände in die Hüften. »Der eingeklemmte? – Wolfgang, Ihr habt mich von ’nem vereiterten Katheter weggerufen, wehe, das war Fehlalarm!«
    »Hier«, meldete sich ein schüchternes Stimmchen, »hier, Herr Doktor.«
    Ein Tankwagen der Nationalen Volksarmee wurde erwartet, blieb aber überfällig. Rektor Scheffler hatte einen Krisenstab gebildet und die Kliniken inspiziert. Tragbare, eingeschweißte Funkgeräte waren dem Rektorats-Safe entnommen, wichtige Telefonate nach einem versiegelten Plan in der angegebenen Reihenfolge geführt worden. Die Intensivstation der Inneren wurde vom dortigen Notstromaggregat versorgt, auch das der Gynäkologie funktionierte. Die Überlegung, dringende chirurgische Fälle dort zu operieren, wurde verworfen: Der Umzug mit sämtlichen Materialien würde zu aufwendig sein; außerdem waren Eddi und seine Männer gerade dabei, durch das Tunnelsystem unter der Akademie Kabel in die Ambulanz und den OP-Trakt der Chirurgie zu verlegen. Einstimmiges »Aah!« erscholl, als wieder Licht aufflackerte. Die schweren Röntgenapparate begannen zu summen, der Kaffeekocher im Aufenthaltsraum hustete Wasser über das Kaffeepulver, in den Lichtkästen erschienen Röntgenbilder, die Schwester, die im Raum für die Kleine Chirurgie eine Taschenlampe über Schnitt- und Kopfplatzwunden gehalten hatte, konnte andere Aufgaben übernehmen. Richard half Grefe beim Reponieren gebrochener Knochen und dem nachfolgenden Gipsen, zwischen den Behandlungen (ein ermüdendes, leise komisches Klinkengeben von Speichenbrüchen links, Speichenbrüchen rechts) lief er zur Kanzel vor, hielt ungeduldig Ausschau nach

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