Der Turm
Jemand wummerte gegen eine Aufzugtür. Schritte hallten gespenstisch durch das Treppenhaus. Die Medizinische Akademie war eine Ballung aus schwarzem Gestein; in der Nuklearmedizin brannte noch Licht, ebenso drüben in der Verwaltung. Schemenhaft waren hin- und hereilende Menschen zu sehen. Auf der Intensivstation hingen Taschenlampen an einer Schnur über den Beatmungsbetten, Kerzen waren angezündet worden. Der diensthabende Anästhesist stellte gerade die Beatmung auf Druck-Sauerstoff um; der Kompressor für die Raumluftbeatmung, die aus den Wänden kam, war ausgefallen, ebenso die Monitore über den Köpfen der Patienten. »Ein instabiler Patient, Oberarzt.«
»Immer noch kein Saft auf den Notstrom-Steckdosen«, eine der Schwestern steckte Kabel um. »Schöne Schweinerei.«
Richard sah zum Noradrenalin-Tropf. Der Patient darunter wirkte friedlich, eine Figur wie auf einem Gemälde der Alten Meister; Höhlenszenerie. Eine Schwester maß ständig den Puls, eine andere den Blutdruck. Geringstes Zuviel oder ZuwenigNoradrenalin ließen ihn wie auf einer Achterbahn schwanken, man mußte gegensteuern, das band Personal.
»ZVD?« fragte der Anästhesist, drückte einen Fingernagel des Kranken, bestimmte die Rekapillarisierungszeit. Eine Schwester beugte sich zum Venotonometer, der den zentralen Venendruck maß.
»Einen Mann könnten wir brauchen«, sagte der Anästhesist. »Bis unsere Leute hier sind, das kann dauern. Die meisten haben kein Telefon.«
»Wie sieht’s im OP aus, wissen Sie was?« fragte Richard.
»Ihr Chef hat abgebrochen. Die Beatmung fährt manuell weiter. Ein Patient im Aufwachraum, bombiger Überhang, kann der Kollege auch nicht weg. Und da wollten die Neurochirurgen noch an ’nen Tumor ran. Ha-ha.«
Kohler blieb auf der Intensivstation; Richard, Dreyssiger und Robert liefen in die Notfallambulanz. Die Gänge, ebenfalls von Taschenlampen an Bindfäden erhellt, waren von Tragen mit klagenden Patienten verstopft; Krankenwagensirenen schwollen auf und ab. Niemand schien zu koordinieren, Ärzte und Schwestern hasteten hin und her. Krankenträger brachten immer neue Patienten; Türen schlugen auf und zu, aus den Behandlungszimmern riefen gereizte Stimmen nach Verbandmaterial, Schwestern, Medikamenten. Der Wartebereich vor der Kanzel, in der Pfleger Wolfgang mit stoischem Gesichtsausdruck Beschwerden und Forderungen entgegennahm, glich einem Lazarett. Vom Kerzenschimmer aus der Kanzel schwach beleuchtet, saßen Verletzte auf dem Boden, wiegten die Oberkörper; auf eine Decke hatte man ein junges Mädchen gelegt, bleich und stumm ertrug sie das Gejammer zweier älterer Frauen. Dreyssiger bahnte robust und vertröstend den Weg in die Kanzel. In den Rollstühlen der Notfallambulanz warteten schweigende oder mit den Armen fuchtelnde Leidende, die meisten wahrscheinlich mit Sprunggelenksverletzungen, Richard musterte im Vorübergehen die geschwollenen Knöchel, versuchte die aufflutenden Bilder zurückzudrängen, Erinnerungen an seine Verletzung während des Angriffs am 13. Februar, die schreienden, wimmernden Verwundeten, die mit ihm unter Bombeneinschlägen, MG-Geknatter einer versprengten Wehrmachtseinheit, Hitze von derbrennenden Chirurgischen und der Kinderklinik gewartet hatten; damals hatte die Akademie noch nach einem Reichsärzteführer Gerhard-Wagner-Krankenhaus geheißen.
»Haben Sie einen von diesen Technikfritzen gesehen?« rief Pfleger Wolfgang Dreyssiger zu. »Die könnten mal ein Kabel legen lassen!«
»Röntgen möglich?«
»Nein. Auch kein CT.«
»Dann sperren«, sagte Richard. »Das bewältigen wir nicht. Wir können nicht operieren.«
»Hab’ die Leitstelle schon angerufen, Herr Oberarzt. Die sagen, alle Dresdner Krankenhäuser wollen sperren.«
»Aber es haben doch wohl nicht alle Stromausfall.«
»Sie bringen uns keine Polytraumen, das ist alles, was ich machen konnte.«
»Wer koordiniert?«
»Grefe. Aber der kommt nicht aus ’m Gipsraum raus.«
»Haben wir überhaupt noch Betten?«
»Nee.«
Dreyssiger ging in einen Behandlungsraum. Richard griff zum Telefon. »Der Chef wird sicher auch bald aufkreuzen. Bis dahin koordiniere ich für die chirurgischen Kliniken. – Besetzt.«
»Eddi!« schrie Wolfgang, winkte heftig einem bulligen Mann im blauen Kittel des Technischen Diensts. Eddi war dessen »Scheff«, ein ehemaliger Boxer, in seinem Büro hing ein Sandsack, an den Wänden, zwischen Trauben von Boxhandschuhen, Fotos von Welter- und Schwergewichtsgrößen. Eddi
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