Der Turm
Leipzig, geplante Aufnahme ab 05. 10. 1987, wird aberkannt. Der Verurteilte hat die Kosten des Verfahrens zu tragen.
Von Rechts wegen
gez.
Dann Pfannkuchen: ebenfalls zwölf Monate Strafarrest. Der Beisitzer verlas die Urteilsbegründung. Das Gericht verließ den Saal. Christian und Pfannkuchen hatten die Urteile und die Urteilsbegründungen zu unterschreiben. Die Protokollantin hielt die Papiere fest, während die Verurteilten unterschrieben.
Verlegung . Wieder kam ein LKW mit der Aufschrift »VEB Dienstleistungskombinat«. Von Dresden ging es nach Frankfurt/Oder. »Immer an der Wand lang«, scherzte Pfannkuchen, als er mit Christian von Effekten kam; beide hatten ihre Seesäckegeschultert, ihre Habseligkeiten darin. Pfannkuchen ärgerte sich, daß er sein Akkordeon nicht mitnehmen durfte. »Keine Unterhaltung!« schnauzte der Posten, stieß sie in den Wagen. Sie fuhren in Handschellen. Irgendwann während der stundenlangen Fahrt wummerte es gegen eine Zellentür. »Ich muß mal austreten!« »Zieh’s hoch und spuck’s aus«, beschied der Posten. »Noch mehr?« fragte er dann. Einige meldeten sich. Der LKW hielt, kurze Beratung mit dem Transportführer. Einzeln austreten. Christian wurde an den Posten gekettet. Die Toilette befand sich auf einem Provinzbahnhof, der für Christian ohne Namen blieb; es ging durch unterirdische Gänge und Hintertüren. Auf der Bahnhofstoilette urinierte er an die fliegenübersummte, blaugekachelte Wand, die es statt der Becken gab; in der Rinne lagen Zigarettenstummel, metallene Aschbecherchen hingen auf Brusthöhe an der Wand, in eines davon hatte der Nachbar seine Zigarette abgelegt. Der Mann fragte nichts und beeilte sich. Der Posten stand halb abgewandt, rauchte, blickte auf die Armbanduhr. »Zügig, Mann, könnense nich schneller pissen!«
Die Untersuchungshaftanstalt Frankfurt/Oder war klein und heruntergekommen. Die Verurteilten kamen in einen Verwahrraum, in dem Pfannkuchen und Christian nicht aufrecht stehen konnten. Es war feucht, die Ölfarbe war an einigen Stellen von den Wänden geblättert, die Schemel hatten angeschimmelte Beine. Die Pritschen waren heruntergeklappt, die Zelle überbelegt, so daß man im Wechsel schlafen mußte. Christian lag auf der Pritsche und sah einem Wassertropfen zu, der an der Decke, aus der Mitte eines Feuchtigkeitsflecks, wie eine helle Pupille wuchs. Kakerlaken raschelten auf dem Boden, liefen die Wände entlang. Die andere Nachthälfte, als Pfannkuchen seinen Platz beanspruchte, saß Christian am Tisch und starrte in die Dunkelheit, in die von draußen dünnes Scheinwerferlicht schimmerte.
Am nächsten Morgen ging es zum Friseur. Die Türen waren niedrig, man mußte aufpassen, sich die Stirn nicht wundzustoßen. Die Treppen waren schmal, es fehlten Stufen, man durfte nicht stürzen, das hätte wie vorsätzlicher Ungehorsam aussehen können. Vor dem Friseur warteten Häftlinge in Handschellen. Der Friseur war ein altes Männchen mit Zahnlücken und glattnach hinten gestrichenen Haaren, die ihm das Aussehen eines Polartauchers gaben, eines nördlichen Schwimmvogels. Christian erinnerte sich an ein Buch seiner Kindheit, »Aus Deutschlands Vogelwelt« hatte es geheißen, ein grünes Zigarettenbilder-Album in Frakturschrift, das ihm der Uhren-Großvater geschenkt hatte. Darin hatte er den Polartaucher abgebildet gefunden. Mit einer Schermaschine wurde Christian geschoren, es dauerte keine Minute; der Polartaucher verstand sein Fach.
Verlegung . Nun wurden die Militärstrafgefangenen von den übrigen Häftlingen getrennt. Die Militärstrafgefangenen kamen in den Schweden , wie das Fahrzeug genannt wurde, das Christian, Pfannkuchen und weitere vier Gefangene beförderte, nach Norden zunächst, durch das Oderbruch, wo die Vögel schrien und ihr Flügelrauschen manchmal das Klappern der Vorlegeriegel übertönte, es roch nach Schilf und Fisch und Petroleum. Dann schwenkten sie nach Osten, Richtung polnische Grenze.
Schwedt . Schreckensname, hinter vorgehaltenen Händen gemurmelt in der Armee, jedem Soldaten bekannt, kaum einem Zivilisten; Schwedt an der Oder: Gründung auf der grünen Wiese wie Eisenhüttenstadt weiter südlich, Ankunftspunkt der Erdölleitung »Freundschaft« aus den Tiefen der Sowjetunion, Plattenbauten, Windsteppe, das riesige Petrolchemische Kombinat. Sie stiegen aus. Christian sah: ein Gittertor mit Posten, einen Weg, der aus einem Wald kam, Industrierohrleitungen auf einer Seite des Wegs, dahinter ein Feld, in
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