Der Turm
der Ferne die bunten Quadrate eines Bienenwagens. Militärstrafvollzugsanstalt Schwedt an der Oder. Christian hatte es sich pathetischer vorgestellt, nach den Gerüchten, die es darüber gab. Aber das? Es wirkte klein, unscheinbar, eng. Sie wurden in einen flachen Betonbau geführt, in einen bis auf ein Porträt des Ministers für Nationale Verteidigung, einen Tisch, ein paar Stühle kahlen Raum.
»Sachen vorlegen«, befahl der Posten. Christian und Pfannkuchen leerten ihre Seesäcke, die anderen Gefangenen warteten unterdessen draußen im Flur. Der Posten notierte die Habseligkeiten auf einer Liste.
»Aufnehmen der Sachen. Einrücken. Umzug.« Mit denSeesäcken auf der Schulter folgten Christian und Pfannkuchen dem Posten. In einer Flachbaracke, noch immer vor dem eigentlichen Lager, hatten sie erneut alles auszupacken. Ein Posten warf ihnen Felddienstuniformen zu, sie hatten die Häftlingskleidung abzulegen und die Uniformen anzuziehen, sie blieben ohne Schulterstücke. Der Posten verlas die Anstaltsordnung.
»Zum Leiter.«
Das war ein Oberst. Er saß in der hintersten Baracke. Auf dem Weg dorthin wurde Christian instruiert, wie er sich zu melden habe.
»Militärstrafgefangener Unteroffizier Hoffmann meldet sich zur Belehrung, Genosse Oberst.«
Der Oberst, ein untersetzter, väterlich wirkender Mann, blieb sitzen, blätterte in Christians Akten, sah ihn nicht an, während er sprach. Er sprach von Reue, von notwendiger Strafe, von Vertrauen und von Erziehung. Dieses Wort kam am häufigsten vor in seiner Rede. Erziehung: denn mit Zwo-zwanzig sei er, Hoffmann, ein ganz Schlimmer. Das werde ihm hier vergehen, das könne er, der Leiter, ihm versprechen. Er, der Leiter, werde aus ihm, Hoffmann, einen reuigen Armeeangehörigen und gut erzogenen Bürger unserer Republik machen. Auch das verspreche er ihm.
Der Vortrakt, in dem die Ankömmlinge sich noch befanden, war vom eigentlichen Lager durch eine stacheldrahtbewehrte Mauer abgetrennt. In der Mauer gab es ein Gittertor, durch das der Posten die Ankömmlinge geleitete. An den Ecken der Mauer gab es Wachttürme, auf denen Posten sichtlich gelangweilt Leichte Maschinengewehre ins Lager hielten. Die Betonmauer grenzte nur nach außen, zum Vortrakt, ab, innen war ihr ein Stacheldrahtzaun vorgesetzt. Zwischen Mauer und Stacheldrahtzaun verlief ein Kiesstreifen, auf dem Hunde schliefen.
Christian wurde in eine Baracke geführt. Muffiger Geruch lag im Flur und in der Stube. Die Stube hatte achtzehn Betten, je drei übereinander. Der Posten zeigte Christian seinen Spind und befahl ihm, stehenzubleiben. Der Posten ging hinaus, Christian starrte aus dem Fenster, von dem staubiges Licht einfiel. Das Fenster war vergittert, man sah einen der Wachttürme und ein Stück Kiesstreifen mit den Hunden, von denen zwei inzwischenerwacht waren. Jetzt erst begriff Christian, was geschehen war, und daß dies für ihn die absehbare Zukunft war: Schwedt an der Oder, Militärstrafvollzugsanstalt, ein Jahr, ein unwiederbringliches Jahr des Lebens. Und dieses Hier, Hier stehst du, wühlte sich wie eine Schraube in ihm fest, er mußte sich ablenken, begann zu rechnen: Mit dem Nachdienen würde er im Herbst 1989 entlassen werden, fünf Jahre Nationale Volksarmee, und was danach kommen würde, wußte er nicht, vielleicht würde ihm Meno helfen. Er konnte nicht mehr stehen, aber schon war der Posten wieder da und befahl es ihm.
»Wir werden Sie schon noch erziehen.«
Der Alltag begann mit dem Wecken früh um vier Uhr. Die Strafgefangenen sprangen aus den Betten, in denen sie in langen Baumwollunterhemden, das Genitale nackt, geschlafen hatten. Frühsport und Waschen. In Christians Kompanie gab es 47 Militärstrafgefangene, für sie gab es einen Waschraum mit zehn Wasseranschlüssen. Die Wasseranschlüsse besaßen keine Wasserhähne; die Wasserhähne waren bei Stabsfeldwebel Gottschlich in Verwahrung und mußten auf die Wasseranschlüsse geschraubt werden. Meist wurden sie herausgegeben.
Nach dem Frühstück begann entweder die Ausbildung im Objekt (Exerziertraining, An- und Ablegen der Schutzkleidung, Einweisung in den Brandschutz, Marsch mit erschwertem Marschgepäck, Sturmbahnlauf ) oder die Arbeit. Die Arbeit fand für die Disziplinareinheiten, in denen Delinquenten ohne Militärgerichtsprozeß dienten, meist in den Barackenkellern statt. Christian und Pfannkuchen gehörten zu den Strafarrestanten, sie wurden jeden Tag zur Arbeit ins Kombinat gefahren. Dort schliffen sie Türen,
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