Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
Vom Netzwerk:
horizontweites Konglomerat von aufgewühlter Erde, Schlamm, Abraumhalden, Kohleflözen bildeten, auf denen die Bagger wie raffende Schatzsucher hockten, umschwärmt von den blutsaugenden Insekten der Kipper. In der Kohle : Irgendwoin der Dunkelheit, die entweder von oben (der rasch drehende Himmel) oder von unten kam (Lehm, Glei, die ölig schimmernden Wasserlachen, die man besser umging), gab es die Reste einer Ortschaft: Brandmauern, verfaulte Zäune, schräg durchgerissene Häuser, Tapetenreste und Konturen von Einrichtungsgegenständen noch sichtbar, eine Konsum-Verkaufsstelle, die nicht mehr bedient wurde (Schecki, Schanett und der Lokführer waren Selbstversorger, hatten ein paar Kühe und Schweine, bauten an, was sie brauchten). Auf einem Gehöft, übriggeblieben von einem Dorf, hauste Schanett allein mit ihrem bettlägerigen Vater, dem ehemaligen Dorffleischer, ohne Strom, ohne fließend Wasser, nicht einmal eins der vielen Gleise der Tagebau-Eisenbahn führte dorthin. Die letzte Stunde der Nachtschicht übernahm Christian den Ablader. Schanett ging, geleitet von Witterung und genauer Kenntnis der sich ständig verändernden Wege im Abbaugebiet, an den fahl erleuchteten Waggons und den kilometerlangen Förderbändern vorbei davon, um bei Tagesanbruch die Tiere füttern zu können. In der Abladekabine hing, neben dem Fenster, ein Plakat, grüne Inseln in grünem Meer.

Finale:
Mahlstrom
    Zeit fiel aus Zeit und alterte. Zeit blieb Zeit auf einer Uhr ohne Zeiger. Obere Zeit war Vergehen, die Sonne stieg auf Ziffernblättern, zeigte Morgen, Mittag, Abend, zeigte auf Kalendern die Tage: die gewesenen, den heutigen, die kommenden. Sie sprang, sie kreiste, sie eilte dahin: eine Kugel, die eine engläufige Schneckenbahn hinabrollte. Untere Zeit aber wies die Gesetze und kümmerte sich nicht um Menschenuhren. Land in seltsamer Krankheit, Jugend war alt, Jugend wollte nicht erwachsen werden, Bürger lebten in Nischen, zogen sich im Staatskörper zurück, der, regiert von Greisen, in todesnahem Schlaf lag. Zeit der Fossile; Fische strandeten, wenn Wasser sich verliefen, zappelten stumm eine Weile, beugten sich, ermatteten, starben reglos und versteinerten: in den Häuserwänden, den schimmelnden Treppenfluren, schmolzen in Akten ein, wurden Wasserzeichen. Die seltsame Krankheit zeichnete die Gesichter; sie war ansteckend, kein Erwachsener, der sie nicht hatte, kein Kind, das unschuldig blieb. Verschluckte Wahrheiten, unausgesprochene Gedanken durchbitterten den Leib, wühlten ihn zu einem Bergwerk der Angst und des Hasses. Erstarrung und Aufweichung zugleich waren die Hauptsymptome der seltsamen Krankheit. In der Luft lag ein Schleier, durch den man atmete und sprach. Die Konturen wurden undeutlich, Dinge wurden nicht mehr beim Namen genannt. Die Maler malten ausweichend, die Zeitungen druckten Reihen schwarzer Buchstaben, aber nicht sie dienten der Verständigung, sondern der Raum dazwischen: weiße Schatten von Worten, die zu wittern und zu interpretieren waren. Auf den Bühnen sprach man in antiken Versmaßen. Beton … Watte … Wolken … Wasser … Beton …
    aber dann auf einmal …,
    schrieb Meno,
    aber dann auf einmal …

68.
Aus technischen Gründen. Walpurgisabend
    Tänze, Träume … Der Schlaf wurde breiig, die Frühschicht kam und ging, Türen schlugen, aus den Zimmern am hinteren Ende des Barackenflurs drang Schlückchens Lallen, das den UvD oder seinen Gehilfen in die nächste Verkaufsstelle schickte, um Schnaps zu besorgen (drüben in Samarkand, eine Stunde Fußmarsch durch Matsch und die stolze Leblosigkeit des Niemandslands) … »Eine Woche duhn sein«, hatte Schlückchen gesagt, »und nachher aufstehn, als wär’ nichts gewesen, einfach eine Woche wegkegeln , vergessen. Sieben leere Blätter im Kalender, und du bist trotzdem noch da.« – »Das ist zu luxuriös, Scheff«, sagte Pfannkuchen, der das Privileg genoß, in der Freizeit am Rand des Grubentrichters zu sitzen und auf seinem Akkordeon Tangos für die Bagger spielen zu dürfen; er bezog das Recht auf diese Anrede aus den Geschäften, die er mit Schlückchen abwickelte. Aber der schien ihn hereinzulegen, drohte mit dem, »wovon du weißt, Kretzschmar«, so daß Pfannkuchen begonnen hatte, eine Liste anzulegen, die er hin und wieder addierte. Zu luxuriös: Eine Woche lang nicht zu wissen, was war, und dann die Uniform straffziehen – »das können nicht mal Könige. Im übrigen wär’ ich dabei. Ich mag Taucherglocken. Scheff.«
    Zwischen

Weitere Kostenlose Bücher