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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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den Schichten, auf der zitronengelben Bettwäsche, die den Streitereien der Soldaten etwas Gemütliches gab, in Tabakdunst, Würfelgeklapper, gelangweilt-frustrierten Skatansagen dachte Christian viel nach.
    »Glaubst du, daß Burre ein Spitzel war?«
    »Denk’ schon. Was ist ihm schon übriggeblieben, Nemo.«
    »Du nennst mich nicht mehr Muttersöhnchen?«
    »Wer einen Sommer im Karbid durchhält, ist keins. Einfache Tatsache, einfache Feststellung. – Jetzt kriegst du Höhe, was? Applaus ist unsere Speise, wie’s beim Zirkus heißt.«
    »Hab’ ihn vor dem Stabsgebäude gesehen. – Da sieht man viele,aber nicht so. Schwer zu erklären, aber ich konnte mir denken, wo er hinwollte.«
    »Wenn ich er gewesen wäre, hätt’ ich’s genauso gemacht. Du erzählst ’n bißchen was und hast deine Ruhe. Dürfte schwer sein, einem dann noch am Zeug zu flicken.«
    »Was hättest du denn über mich erzählt?«
    »Daß du zuviel nachdenkst für ’nen überzeugten Klassenbruder. Daß du also gefährlich bist. Ein Schlaukopf, der so lange das Maul halten kann wie du, der still beobachtet und zu niemandem engeren Kontakt hält, ist mit irgendeiner Zwischenlösung nicht zufrieden. Der will mehr. Freiheit oder Gerechtigkeit, zum Beispiel. Und das sind immer die, die Schwierigkeiten machen.«
    »Vielleicht bist du ein Spitzel?«
    »Würde mir nichts bringen. Wäre tödlich fürs Geschäft. Ich lebe von meinem Ruf, und so was dringt immer durch, wie Nässe durch die Wand.«
    »Trotzdem.«
    »’n anderer als du hätte jetzt das da zwischen den Rippen.« Pfannkuchen wies auf eine Brechstange, die an der Barackenwand lehnte.
    Bis zum 29. Dezember war es ein ungewöhnlich milder Winter gewesen; die Kälte kam plötzlich, Christian sah vom Bagger aus, wie die Pfützen zufroren, wie der Regen abrupt zu Eisgraupel wurde. Die Leitungen der Tagebau-E-Loks knisterten. Der Wind blies kalten weißen Staub heran.
    »Junge, Junge«, der Brigadier, der die Schicht aufführte, rückte den Schutzhelm zurecht, blickte besorgt auf das Gestöber, »das kann noch was werden. Und das kurz vor Silvester.«

    »Meno, gleich um vier.« Das zigarettenheisere, gutturale Lachen Madame Eglantines lenkte den Blick auf ihre Augen, die erschrocken groß waren und den verletzlich wirkenden Glanz von frisch aus ihrer Stachelschale geschlüpften Kastanien besaßen, auf ihre Kleidung (naturgrünes Leinen mit übermütig unregelmäßig aufgestickten roten Filzrosen), den dazu unpassend scheinenden, schwermütigen Gang in billigen Turnschuhen oder (winters) geerbten Wander-Schnürstiefeln, deren Senkelsie gern offen ließ: ein großes Mädchen, dachte Meno und folgte ihr in den Versammlungsraum des Verlags, wo Lektor Kurz bereits den Fernseher für die Direktübertragung der »Festveranstaltung des Zentralkomitees der SED zum 70. Jahrestag der Gründung der KPD« eingeschaltet hatte. Aber das Bild brach einige Sekunden später zusammen, die Heizungen knackten und wurden kalt, der Kühlschrank im Flur hörte auf zu brummen, und Typograf Udo Männchen, der am Fenster stand, sagte: »Wir leben überaus – unterinstrumentiert. Die ganze Thälmannstraße ist dunkel. Wir sollten Blindenschrifttexte verlegen.«
    »Haben Sie schon beim letzten Mal vorgeschlagen, wird auch nicht witziger«, knurrte Lektor Kurz. Frau Zäpter brachte Kerzen, Weihnachtsstollen und selbstgebackene Lebkuchen. »Den Tee wollte ich gerade brühen.«
    »Wozu haben wir unseren Spirituskocher«, sagte Disponent Kai-Uwe Knapp. »Hab’ ihn sogar aufgefüllt – der Mensch ist ein lernfähiges Wesen.«
    »Wie romantisch«, seufzten Miss Mimi und die neben ihr sitzende Melanie Mordewein gleichzeitig; Miss Mimi hatte den Ton so boshaft genau getroffen, daß das Gelächter sich verzögerte und nur bewundernd blieb.

    Niklas zog weiße Handschuhe an, kippte die Schallplatte, eine wippende EMI-Pressung, die ihm einer seiner Staatskapell-Patienten geschenkt hatte, aus der Hülle und dem mit Folie gefütterten Papierschutz, faßte die Scheibe zwischen Mittelfinger und Daumen (der Zeigefinger stützte im roten Etikett, auf dem ein Hündchen der Stimme seines Herrn lauschte, die aus einem Grammophontrichter scholl), begann sie mit extraweichen Kohlefasern zu streicheln, die wie eine Sammlung verführerischster Frauenwimpern in einer Aluminiumbürste aus Japan steckten (ebenfalls ein Musikerpatientengeschenk) und den Staub schonender, dabei gründlicher entfernen sollten als das gelbe Tuch, das der VEB Deutsche

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