Der Turm
Schallplatten manchen seiner Eterna-Alben beilegte, kämmte zärtlich und versonnen die feingewebte Tonspur nach, bis Erik Orré, der an diesem Abend dienstfrei war und sich mit Richard über Zwölffingerdarm-Geschwüre unterhalten hatte, sagte: »Nu, laß gut sein, Niklas, ich denke, duhast ihr Vertrauen.« Das Ehepaar Schwede (sie Operettensängerin, hilflos, aber charmant aus flaschenbodendicken Brillengläsern blinzelnd; er, fand Richard, clarkgableschön, mit Menjoubärtchen, in Strickjacke, beschäftigt in der Außenstelle des Rats für Gegenseitige Wirtschaftshilfe am Lindwurmring; die Frauen dort, wie Richard von Niklas wußte, nannten ihn bei seinem Vornamen, Nino) stand am Fenster, beide eine Biertulpe in der Hand, Nino sagte: »Wenn das so weiterschneit, können wir unseren Wasserrohrerwärmungsring wieder anschalten, Billie.«
Die ganze Stadt schien in Bewegung zu sein, Geschiebe, Gedränge, die im Dunkel schnell aufbrechenden Dinge, vom Straßenlicht, vielleicht auch der zivilisierenden Kraft fremder Blicke gebändigte Gewalt (die, empfand Meno, reuelos wuchs, da man die Augen des Menschen, den man anfluchte, knuffte, rempelte, schlug, nicht sah); Pulks, die sich bildeten, in den nächsten Minuten aber schon wieder zerstreuten; die Menschenströme schienen behutsamsten Witterungsänderungen zu folgen, möglicherweise nur einem im Halbton weitergetragenen Gerücht, einem korrigierten Magnetismus (Stoßen, Hoffen), und dabei ziellos zu sein, aufgescheuchte Bienen, denen man ihren Bau genommen hat. Geschrei und Stöhnen, Rufe über die dunklen Straßen, Glasklirren: Wird schon geplündert? dachte Meno, um Fassung bemüht; er klammerte seine Tasche fest und ging über den Altmarkt Richtung Postplatz, wo er eine funktionierende Straßenbahn zu finden hoffte. In der Zwinger-Gaststätte, von den Dresdnern verachtungsvoll »Freßwürfel« genannt, brannten noch einige Lichter, auch im Haus des Buches und in dem von schwedischen Firmen erbauten festungsartigen Hauptpostamt. Meno geriet in einen sich rasch verdichtenden Schwarm, instinktiv und nachtmottenhaft angezogen schienen sich die Menschen auf die Lichter zuzubewegen, heliotrope Wesen, für die es im Dunkel vielleicht besser gewesen wäre. Heftiges Schneetreiben setzte ein. Das Schauspielhaus lag finster, die Hochhausreklame »Der Sozialismus siegt« war erloschen. Straßenbahnen fuhren nicht mehr, Meeressäuger, erstarrt in einer Schneekugel.
»Schienenersatzverkehr«, rief einer der Schaffner den andrängenden Menschen immer wieder zu, wobei er sich resigniertund sorgfältig in eine Decke wickelte. Der Bus für die 11 fuhr ab Julian-Grimau-Allee, Haus der Presse, und war überfüllt; Meno erkannte Herrn Knabe, das Ehepaar Krausewitz, Herrn Malthakus im guten Anzug mit Fliege, sogar Frau von Stern, die rüstig ihre Anrechtskarte schwenkte, als Bildhauer Dietzsch ihr in den Bus und auf einen für sie freigemachten Sitzplatz half. »Semperoper, Schauspiel – alles dicht«, rief sie Meno erbost zu. Der Bus fuhr bis zur Waldschlößchenstraße.
»Und der Rest der Strecke? Sollen wir etwa laufen?«
»Ja«, erwiderte der Busfahrer achselzuckend. »Ich habe meine Anweisungen.«
An der Mordgrundbrücke, nach einigen Kilometern Fußmarsch, hielt der kleine Troß der Übriggebliebenen inne. Der vor ihnen liegende Berg war nicht sehr steil, aber, wie man in der eigentümlichen Helligkeit des Schneetreibens erkennen konnte, mit einem milchigen Eispanzer bedeckt. Auf halber Berghöhe steckte eine erloschene Straßenbahn in den Gleisen, bis über die Räder festgefroren, von den Oberleitungen und von der abschüssigen Mordgrundseite des Bergs hingen lange, bizarr geformte Eiszapfen.
»Da muß es die Haupt-Wasserrohre erwischt haben«, sagte Malthakus in anerkennendem Ton. »Die Frage ist, wie wir hier raufkommen. Wenn uns keiner an Seilen hochzieht –«
»Eine Sicherung, wie sie die Berg-Seilschaften verwenden«, bemerkte Frau von Stern. »Hatten wir im Krieg, wenn es so fror.« »– sonst wird das ’ne feine Rutschpartie, und sie können uns morgen aus dem Bach brechen.«
»Mit meinem Instrument gehe ich freiwillig sowieso nicht rauf«, erklärte ein Kontrabassist der Staatskapelle; ein Waldhorn-Kollege pflichtete bei: »Unsere kostbaren Instrumente.«
»Warum haben Sie die denn nicht in der Oper gelassen?« fragte Herr Knabe ungehalten.
»Was für eine … entschuldchense mal, aber ich muß das aussprechen: dumme Frage! Ihr Mathematischer Salon ist ja
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