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Der Turm

Der Turm

Titel: Der Turm Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Uwe Tellkamp
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aufkeuchenden Boxhandschuhe seiner Staub-Weltergewichtler, ohne die Luftkissen unter den plattfüßigen Sprüngen auf die Abraum-Förderbänder, über denen Blechlampen wie ertappte, von der Wut bärenstarker Wirte geschüttelte Zechpreller schaukelten. Der Schiffsarzt hatte Christian von Segelschiffen im Sturm erzählt, wie die Matrosen, zwanzig, dreißig Meter unter sich das tumultuöse Meer, über dem Mast hingen, auf Leinen balancierend, die »Pferd« hießen, in ein widerspenstiges, in fesselnsprengende Rage geratenes Segel gekrallt, das sie zu bergen versuchten, »eine Hand für’s Schiff, eine für’s Leben«. Zu steil, dachte Christian, du bist nicht auf einem Schiff. Aber die Vorstellung half, drückte einen Bruch in die Wirklichkeit, machte sie auf unkomplizierte Weise erträglicher. Wasser … und Ratten. Das Wasser sammelte sich am Grund des Tagebaus, kaum zu bewältigen für die Pumpen, deren Röcheln der Wind hin und wieder aus seinen Chören entließ, ein Geräusch, das Christian wie der Todeskampf von Lebewesen vorkam, die in Wahrheit in den Maschinen tätig waren (versklavt und eingesperrt von einem modernen Fluch) und Christian leid taten, weil sie immer nur Wasser trinken mußten – was er für den neuerlichen Beweis nahm, daß es auch eine allmähliche Seite der Torturen gab. Die Ratten waren fett und ungeniert und hatten die schlüpfrige Biegsamkeit von Tieren, die man zwischen beide Hände gepreßt halten muß (verwilderte Katzen, Iltisse, alte Unken); der Baggerführer, von dem Christian nie den Namen, nur den Spitznamen (»Schecki« oder »Scheggi«, je nach Grad der aus dem Alkohol geliehenen Beseligung) erfuhr, schoß gern, wenn das Schaufelrad in den Berg schwenkte und seine Maulwurfsmahlzeit begann, aus der Kanzel mit einem Luftgewehr auf sie, wobei es sein Ehrgeiz war, sie »sauber« zu treffen (in die Augen oder, das galt mehr, in den glitschig rosigen, nackten Schwanz, der dann zur veitstanzenden Peitsche »auflebte« – sagte Schecki: in einem der wenigen Gespräche, die er mit Christian führte, es hatte mit einer in Richtung Hangkante vag erhobenen Hand und einem geknurrten »Da oben waren mal Friedhöfe«, begonnen, nachdem Christian einen schlecht verwesten Fuß in einer der Schaufeln des Baggerrads entdeckt hatte). Schecki grinste, genehmigte sich einen SchluckHagebuttentee, den die Tagebauleitung kostenlos an ihre Arbeiter verteilte, drückte auf den Knopf des Baggerfunks und brüllte »fressen« in die Membran; ein aufgebrachtes Krächzen aus Schanetts (so wurde die Abladerin genannt) Kabine antwortete ihm. Schanett ließ den eben befüllten Waggon vollrieseln, schmiß die Kabinentür zu, beugte sich über den Abladerausleger und stieß einen Schrei aus, den ein hechelnder Pfiff der Lokomotive vor den Abraumwaggons bestätigte. Sie stapfte in den Aufenthaltsraum, wo es Christians Aufgabe war, den Tisch mit vier der zerkratzten, auf der Rückseite als Eigentum des Braunkohlenkombinats gekennzeichneten Plastteller, und dreimal Aluminiumbesteck zu decken (Schanett aß mit einem privaten Schlachtermesser) und das Bratblech einzuschalten, das neben Scheckis Umkleidespind frei aus der Wand ragte. Wenn das Blech glühte, stand Schanett auf, spießte einen Margarinewürfel auf das Schlachtermesser, klatschte ihn auf das an den Kanten aufgebogene Blech, wo die Margarine zischend umherschwamm (die überschüssige tropfte in einen verrosteten Wehrmachtstahlhelm, den Schecki aus dem Abraum gefördert und unter dem Blech befestigt hatte), entnahm ihrem Rucksack (die Fäustlinge legte sie nicht ab) vier in Zeitungspapier gewickelte Schweinesteaks, spießte sie ebenfalls auf das Schlachtermesser, ließ das Blut abtropfen, warf sie wütend auf das Blech, wendete, streute aus einer Büchse, die alle drei Gewürze zugleich enthielt, Salz, Pfeffer und Knoblauch über das schmurgelnde Fleisch, nickte Schecki und dem Lokführer, die inzwischen obszöne, im Tagebau kursierende Witze austauschten, mit einer verächtlichen Geste heran, wenn die Steaks fertig waren. Christian legte sie das Fleisch selbst vor, zögerte einen Moment, bevor sie dem Teller einen Stoß in seine Richtung gab, so daß er, Soße und Blut schwappten auf die mit Stahlklammern befestigte Wachstuchdecke, über den Tisch schlitterte. Sie aßen, meist nachts um zwei Uhr, und währenddessen flaute das Blech ab. Sie wohnten alle in der Kohle ; der Tagebau war nur einer von vielen, die untereinander zusammenhingen und ein

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