Der überflüssige Mensch: Unruhe bewahren (German Edition)
wegzuwerfen, so müssen die Dale das wenige Geld, das sie für zusammengetragenes Altglas erhalten, für Essen ausgeben, eine letzte fragile Verbindung zur Welt der Märkte.
Auch bei uns stecken viele Menschen im Treibsand zwischen Erfolg und Überflüssigkeit fest. Sie kämpfen darum, nützlich zu bleiben, wesentlich zu werden, im Wettbewerb zu bestehen, den drohenden Absturz in die soziale Irrelevanz und materielle Unterversorgung zu vermeiden. Es geht um alles. To become redundant lautet auf Englisch die gängige Bezeichnung für den Verlust des Arbeitsplatzes – die wortwörtliche Übersetzung bedeutet »überflüssig werden«. Allein die funktionale Flexibilität, die zunehmend eingefordert und immer öfter unter Beweis gestellt werden muss, steht zwischen dem Einzelnen und der Schutthalde. Wie sehr sie an den Werktätigen zehrt, zeigt das Beispiel von France Telecom. Zwischen 2008 und 2010 brachten sich dreißig Mitarbeiter um, nachdem ein Programm rigoroser Arbeitsplatzflexibilität eingeführt worden war. Und wer einmal in der Müllgrube gelandet ist, der entkommt ihr nur schwer wieder. An diese endgültige Verurteilung erinnern uns täglich die Obdachlosen, ein jeder von ihnen ein ungepflegtes, übel riechendes Memento mori.
Folgerichtig werden die sogenannten Tafeln, jene karitativen Einrichtungen in Deutschland, die wie süßsaure Pilze aus dem Nährboden der sozialen Erniedrigung schießen, mit Nahrungsmitteln bestückt, die von den Supermarktketten wegen abgelaufenen Mindesthaltbarkeitsdatums entsorgt werden müssten. Den Armen wird gnädigerweise das zum Fraß vorgeworfen, was vom reich gedeckten Buffet des Supermarktes hinabfällt. Wie sie selbst ist dieses Essen zwar noch nicht unbrauchbar, aber im Prozess des Verderbens begriffen.
Mehr als eine Million Menschen sind in Deutschland von den wöchentlichen Essensgaben der Tafeln abhängig, eine erstaunliche Zahl, wenn man bedenkt, dass die erste Tafel vor gerade einmal zwanzig Jahren gegründet wurde. Auf langen Reihen von Biertischen liegen Kartons mit Nahrungsmitteln, deren Ablaufdatum fast oder vor Kurzem überschritten wurde, die aber noch nicht zum Himmel stinken. Der gesunde, wohlgeformte Apfel, der es geschafft hat, bei den Qualitätskontrollen der Großeinkäufer zu bestehen (im Aussehen, nicht im Geschmack!), wird zunächst zahlungsfähigen Kunden angeboten. Wenn diese ihn verschmähen, erhält er eine zweite Chance als Almosen, und wenn er auch als solches liegenbleibt, wird er entsorgt.
Die Bezeichnung »Almosen« stimmt nicht ganz, denn manche Tafeln verlangen die Zahlung eines symbolischen Euros, angeblich um dem Essen seinen Wert nicht zu nehmen. Im Spätkapitalismus verteidigt schon ein einzelner Euro die heilige Wertigkeit, das Kostenlose hingegen ist prinzipiell entwertet. Der Selbstwert der Bedürftigen wird weitaus weniger bedacht. Sie müssen einen Armutsausweis vorlegen, als Beweis, dass sie mit Hartz IV oder Rente nicht überleben können. Etwa 1,5 Millionen arbeitende Bundesbürger sind Aufstocker, können also von ihrem Lohn nicht würdig leben, manche von ihnen selbst als Vollzeitjobber nicht. Kann das System die Überflüssigkeit eines Menschen überhaupt klarer signalisieren? Sie müssen Schlange stehen, um Brosamen zu erhalten. Wie ist das mit der laut Grundgesetz zu schützenden Würde des Menschen vereinbar?
Wer es gewohnt ist, durch die einladend ausgeleuchteten Hallen des Überangebots zu flanieren, wird mit den Tafeln keine Bekanntschaft gemacht haben, wird vielleicht nicht einmal von ihrer Existenz wissen. Die Unentbehrlichen und die Überflüssigen begegnen sich in unserer Gesellschaft so gut wie nie. Zu den Mülldeponien führen zwar planierte Straßen, aber diese werden nur von den Lastwagen der Müllabfuhr und jenen Wassertankwagen befahren, die das leicht entflammbare Areal täglich abspritzen müssen. »Normale« Bürger verirren sich nicht in solche Gegenden. Der Großstädter umfährt gekonnt die Ghettos und Problemzonen, er hat die Topografien der Sicherheit verinnerlicht. Wer am Rande des Mülls existiert, wird nicht wahrgenommen. Es ist an der Zeit, die Kategorie der »Unberührbaren« – jene, die weder sichtbar sind noch am Wirtschaftsleben teilhaben können – auch für unsere Gesellschaft einzuführen.
Prekär, der Prekäre, das Prekariat
One, two, three, four
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no work in the factory
no more manufacturing
all the tools are broke & rusted
every wheel
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